Das Buch fürs Leben

In einem früheren Artikel hat der alte weise Mann über die Bibel geschrieben. Die Aussage: Die Bibel ist kein theoretisches Lehrbuch, sie ist ein Buch für das praktische Leben. Das ist sie deshalb, weil sie kein Buch über Gott ist, sondern ein Buch über Erfahrungen, die Menschen mit Gott machen.

Was heißt das nun für unseren Umgang mit diesem besonderen Buch? Wie sollen wir die Bibel lesen?

Da gibt es ja verschiedene Ansätze. Zugang Nr. 1 zur Bibel: Die Bibel als Rezeptsammlung. Die Vorstellung dahinter: Ich finde in der Bibel zu jeder Frage, zu jedem Problem ein Rezept. Man nehme eine Prise aus dem Markus-Evangelium, mische zwei Sätze aus dem Buch Micha darunter, füge einen Abschnitt aus den Psalmen dazu, lasse das Ganze mit einer guten Portion eigener Gedanken aufgehen und  dann auf höchster Flamme hochkochen. – Das Ergebnis sieht dann oft lecker aus, ist aber immer ungenießbar und meist hochgiftig.

Zugang Nr. 2: Die Bibel als Telefonbuch. Die Vorstellung dahinter: Die Bibel ist ein einheitliches Ganzes, alle Teile sind aus demselben Gedanken, mit derselben Zielrichtung gestaltet. Deshalb ist die Bibel unabhängig von Zeit und Raum und Person für jede/n gleich zu verstehen. Es gibt nur eine gültige Interpretation bzw. man muss überhaupt nichts interpretieren.  So wie es dasteht, so gilt es. – Eine angenehme Vorstellung, die leider in keinem einzigen Fall funktioniert.

Zugang Nr. 3: Die Bibel als historischer Bericht. Die Vorstellung dahinter: Die Bibel berichtet objektiv und sachlich das was tatsächlich so geschehen ist. Es geht darum, Fakten zu begreifen. Denn: Wissen = Glauben. – Das Leben wäre leichter, wenn es so wäre. Ist es aber nicht. Glauben ist mehr als Wissen. Die Bibel ist mehr als ein Geschichtswerk.

Die Bibel ist eine Sammlung von Geschichten, die Menschen mit Gott erlebt haben. Und weil Menschen sehr unterschiedlich sind, sind auch diese Geschichten sehr unterschiedlich. Es gibt Erzählungen über diese Erfahrungen, es gibt Gebete zu diesem Gott, es gibt eher abstrakte Reflexionen über diese Erfahrungen, es gibt praktische Tipps für das Leben mit Gott, es gibt Texte des Zweifels und der Verzweiflung, es gibt Liebesgedichte und bittere Vorwürfe und und und …

Nicht nur die Verfasser der Bibel waren äußerst unterschiedlich. Auch die Leser/innen waren und sind es. Deshalb nimmt auch jede/r diese Texte ganz individuell auf. Herr A ist von einem Text total überwältigt und ändert dadurch sein Leben. Frau B ist vom selben Text leicht verstört und liest ihn nie wieder. Das gilt auch für die Gesamtheit der Christen im Laufe der Zeit. Die Offenbarung zum Beispiel war im Mittelalter eines der zentralen Bücher der Bibel. Heute fristet sie eine Randexistenz. Dafür sind seit Luther die Paulus-Briefe wichtig, die davor kaum interessiert haben.

Die Bibel ist also ein individuelles Buch, für das jeder Mensch seinen eigenen Zugang finden muss. Was aber bei aller Indivualität für alle gilt: Man findet nur einen Zugang, wenn man bereit ist, sich von diesem Buch ansprechen zu lassen. Das heißt konkret: Ich muss bereit sein, auf dem Weg über dieses Buch selbst meine Erfahrungen mit Gott zu machen. Ohne bestimmte Erwartungen, was bei der Lektüre passieren muss. Ohne die Vorstellung, sofort zu jeder Frage das passende Antwortrezept zu erhalten. Und ohne die Vorstellung, ich könnte mit Hilfe der Bibel Gott näher kommen, ohne mich persönlich einbringen zu müssen.

Die Bibel ist ein Buch für das Leben. Nur aus diesem Blickwinkel erwacht Sie auch für Sie zum Leben. Ansonsten bleibt sie tot.

Es ist nicht leicht, ein Mensch zu sein

Es ist nicht leicht, ein Mensch zu sein. Denn als Mensch kann man ausreichend genug denken, um Fragen stellen zu können. Das Denkvermögen reicht aber nicht aus um Antworten zu finden. – Also man findet schon Antworten auf seine Fragen. Aber aus jeder Antwort entstehen fünf neue Fragen. Und am Ende gelangt man immer zu der Antwort „Es ist halt einfach so. Und jetzt halt die Klappe!“

Anders gesagt: Der Mensch ist ein Tier – aber nicht ganz. Er besteht aus Materie in Form eines Körpers und wird von den Vorgängen in eben diesem Körper beherrscht. Aber im Gegensatz zu einem Tier kann der Mensch darüber nachdenken und sich dadurch darüber erheben. So gesehen ist der Mensch wie Gott – aber halt auch nicht ganz. Er ist immer noch an seinen Körper gebunden, mit all den damit verbundenen Begrenzungen – auch und vor allem im Denken.

Wir Menschen stecken also irgendwo auf dem Weg vom Tier zu Gott fest. Das ist unbefriedigend. Das ist mühsam. Das hält kaum ein Mensch aus. Weshalb die Menschheit mit zwei Strategien darauf reagiert:

Strategie A: Keine Fragen mehr stellen. Sich den ganzen langen Weg bis zur Antwort „Es ist halt einfach so“ sparen und gleich, ohne zu fragen, zu sagen „Es ist halt so“. Aufhören zu denken.

Strategie B: So tun als hätte man Antworten. Die aus diesen Antworten entstehenden Fragen ignorieren und an diesem Punkt aufhören zu denken. Im Prinzip dasselbe Vorgehen wie Strategie A, nur mit etwas Anlauf.

Die ganz Mutigen vermeiden beide Strategien und stellen sich den Fragen und den Antworten, die zu neuen Fragen führen. Aber es anstrengend. Es ist mühsam. Manchmal möchte man verblöden. Einfach dasitzen und nur noch denken „Es ist halt so. Und jetzt halte ich die Klappe.“

Gott Macht

In einem früheren Artikel hat der alte weise Mann über den Sinn des Lebens geschrieben. Er hat versprochen, später darüber zu schreiben, was das alles für das konkrete Leben bedeutet. Nun denn, dieses Versprechen wird hiermit eingelöst.

Der Sinn des Lebens ist es, in Gott zu sein, hat der alte weise Mann gesagt. Was heißt das jetzt konkret? Was bedeutet „In Gott sein“ für mein Leben?

Das bedeutet: Gott machen lassen.
Dieser Gott hat schließlich alles gemacht. Das ganze Universum, Sie, mich. Er hat das nicht nur irgendwann mal begonnen und es sich dann sich selbst überlassen. Er hält alles am Laufen. Von ihm hängt alles ab. Er braucht nur mit seinen metaphysischen Fingern zu schnippen und es hat Sie nie gegeben. Nicht nur, dass Sie plötzlich weg sind. Sie haben nie existiert. Denn Gott steht auch über der Zeit. Schließlich hat er ja auch die Zeit geschaffen.

Gott ist alles. Und ich habe nur einen sehr extrem winzigen unscheinbaren minimalen Einblick in dieses „Alles“. Ich verstehe ja mich selbst kaum. Im Gegensatz zu Gott, der mich durch und durch kennt. Und dieser Gott, der alles ist, ist kein kühler, ferner, gleichgültiger Gott. Er ist das, was wir mit unserem begrenzten Verstand „Liebe“ nennen. Alles, was er gemacht hat, war „gut“. Und er will, dass es gut bleibt.
Deshalb kann ich mich diesem Gott anvertrauen. Diesem Gott, der alles gemacht hat und der alles gut haben will. Ich vertraue mich diesem Gott an, weil alles andere ziemlich blöd wäre. Weil alles andere scheitert. Wenn ich ausschließlich auf mich vertraue, oder auf andere Menschen, oder auf Macht, Wohlstand, Sicherheit, dann kann ich kurzfristig damit erfolgreich sein. Sogar bis ans Ende meines Lebens, sofern ich rechtzeitig genug sterbe, bevor der Zusammenbruch kommt. Denn der Zusammenbruch kommt zwangsläufig. Wenn ich auf anderes als Gott vertraue, dann kann ich Erfolg haben, reich werden, angesehen und beliebt sein. Aber glücklich werde ich nicht. Und – noch mehr: Ich mache niemanden glücklich.

Deshalb heißt „In Gott sein“: Gott entscheiden lassen, Gott machen lassen. Denn Gott ist der einzige, der wirklich Macht hat. Dem die Macht nicht von irgendjemandem gegeben wurde, der niemand braucht um mächtig zu sein. Der niemand braucht, weil er an keine Regeln, an keine Ursache und keine Wirkung gebunden ist und daher völlig frei ist in allem. Gott ist die reine, uneingeschränkte Macht. Und ich bin vollkommen abhängig von ihm, ich bin absolut machtlos. Darum ist es das einzig Sinnvolle, auf meine ohnehin nicht vorhandene Macht zu verzichten und mich ganz und gar Gottes Macht anzuvertrauen.

Das bedeutet aber nicht, dass ich mich aufgebe. Ich muss weiterhin selbst mein Leben leben. Ich darf und soll das sogar. Ich mache mir weiterhin selbständig Gedanken, ich entscheide weiterhin, ich lebe diese Entscheidungen, ich bleibe ich. Doch all das mache ich in dem Bewusstsein,  das ich nichts davon allein aus mir selbst vollbringen kann. Deshalb bringe ich alles, mein ganzes Leben (und das Leben aller Menschen, die ich wiederum beeinflusse) im Gebet vor Gott und sage immer wieder: „Mach mal, Boss!“ Und der Boss macht dann. Und ich mache mit.

Das ist Sinn-voll.

Im Zweifel

Manche Menschen sind sich immer sicher. Zu hundert Prozent, jederzeit, in allen Lebenslagen. Manche Menschen leben vom Zweifel, leben für den Zweifel. Sie sind sich in allem unsicher. Vermutlich. So ganz gewiss sind sie sich da nicht.

Ist der Zweifel nun gut oder böse? Da gibt es eine unzweifelhafte Antwort darauf. Die lautet: Es kommt darauf an.

Es gibt nämlich einen heilsamen Zweifel und es gibt einen zerstörerischen Zweifel. Der Unterschied liegt in der Motivation, warum man zweifelt. Diese Motivation kommt aus unterschiedlichen Zielvorstellungen, was man mit seinem Zweifel erreichen will. Hier gibt es grundsätzlich zwei Ziele:

a) Ich zweifle, weil ich etwas herausfinden will.

b) Ich zweifle, weil ich verhindern will, dass ich etwas herausfinde.

Praktisches Beispiel: Sie zweifeln, ob Ihr Partner Sie noch liebt. Warum zweifeln Sie daran? a) Weil es objektive Tatsachen gibt, die darauf hindeuten, dass die Liebe Ihres Partners nachgelassen hat. Zum Beispiel die Tatsache, dass er vor zwei Wochen ausgezogen ist. b) Weil Sie seit dem ersten Tag Ihrer Beziehung daran zweifeln, dass überhaupt irgendjemand sie liebt.

Im Fall a) werden Sie herausfinden wollen, ob Ihre Beziehung noch eine Chance hat. Sie werden versuchen, etwas das möglicherweise zerstört ist, wieder zu heilen. Im Fall b) werden Sie alles verhindern wollen, das Sie einer unangenehmen Einsicht näher bringt. Zum Beispiel die Erkenntnis, dass Ihr Partner Sie tatsächlich liebt. Das würde ja Ihr Selbstbild zerstören. Da zerstören Sie dann lieber eine heile Beziehung.

Der heilsame Zweifel ist also konstruktiv. Er baut auf, er heilt, er führt aus ungesunden Situationen heraus. Der zerstörerische Zweifel ist destruktiv. Er macht kaputt was heil ist, er führt in ungesunde Situationen und hält einen dann darin gefangen.

Zweifeln Sie, liebe LeserIn, aber zweifeln Sie richtig! Und an seinen Zweifeln zu zweifeln ist auch nie verkehrt. Zweifellos.

Alles hat seinen Preis

Früher war alles besser.

Nö. Stimmt nicht. Früher war alles anders. Oder zumindest war ziemlich viel anders. Früher war mehr Lametta, zum Beispiel. Was früher auch anders war: Der einzelne zählte nicht viel. Entscheidend war das Gesamte. Das Volk, die Nation, die Kirche, die Familie … Das hatte positive Effekte. Einen starken Zusammenhalt, zum Beispiel. Oder Sicherheit. Das hatte auch negative Effekte. Einen enormen sozialen Druck, zum Beispiel. Oder Ausgrenzung von Menschen, die sich diesem Druck nicht fügen wollten oder konnten.

Aus diesen Auswirkungen heraus entstand eine Gegenbewegung, die den Wert des einzelnen Menschen in den Mittelpunkt stellte. Die Menschenwürde wurde immer wichtiger. Eine Zeit lang befanden sich die beiden Pole Gemeinwohl und Wohl des Einzelnen im Gleichgewicht. Doch dann lief es so wie es immer läuft: Wenn ein Ziel erreicht ist, wird trotzdem weitergemacht. Die Menschen wissen nicht wann sie aufhören müssen. Und so kippte das Gleichgewicht immer mehr in Richtung Wohl des Einzelnen. Heute haben wir in unserer Kultur eine extrem einseitige Betonung des Ich, das Wir ist fast bedeutungslos geworden.

Dieser Zustand hat viele Namen. Neoliberalismus. Ungezügelter Kapitalismus. Oder schlicht und einfach: Egoismus.

Die Auswirkungen: Nichts hat mehr einen Wert. Alles hat einen Preis. Und zwar den Preis, den ICH bereit bin zu zahlen oder den ich von anderen fordere. MEIN Wille ist die einzige Grundlage für alles. Das gilt nicht mehr nur für Dinge, für Waren. Das gilt auch für Menschen. – Was MEIN Lebenspartner mir bringt, entspricht nicht mehr dem was ICH investiere: Der Partner wird retourniert. ICH will ein Kind: Dann habe ICH auch ein Recht darauf, und die Allgemeinheit muss alles tun und jeden Preis dafür zahlen, dass ICH ein Kind bekomme. ICH will kein Kind: Dann habe ICH ein Recht darauf es zu töten. Und MEIN Kind hat die Pflicht so zu werden wie ICH es mir erträume. Und alle ErzieherInnen und LehrerInnen müssen jeden Preis dafür zahlen, dass MEIN Kind MEINEN Vorstellungen gemäß heranwächst.

Die Menschenwürde hat schon lang ausgedient. Also sie gilt selbstverständlich weiterhin für MICH. Aber die Würde aller anderen ist abhängig von ihrem Wert. Und zwar von ihrem Wert für MICH. Wer diesen Wert nicht aufbringt, der darf ruhig im Mittelmeer ertrinken. Der darf ohne schlechtes Gewissen vor der Geburt getötet werden. Der darf seine überschwemmte Heimat verlieren, damit ICH weiterhin in den Urlaub fliegen kann und mich auch sonst nicht einschränken muss. Schließlich wiegt MEIN Selbstbestimmungsrecht mehr als alles andere. Als alle anderen.

ICH. ICH. ICH. Das ist der Gott, den immer mehr anbeten. Der Gott, der nicht angezweifelt werden darf. Und wer einen anderen Gott verkündet, der wird gesteinigt. Die Felsbrocken, die auf ihn geworfen werden heißen „Fundamentalismus“, „Rechts“, „Frauenfeindlichkeit“, „Einschränkung der Freiheit“.

MEIN Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden. Denn MEIN ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit. Bis zum bitteren Ende. Amen.

 

Alles Leid der Welt

Eine grundlegende Frage eines jeden denkenden Menschen ist die Frage nach dem Leid. Warum werden Menschen krank und sterben jung, warum gibt es Naturkatastrophen und Unglücke, warum tun Menschen einander weh? Welchen Sinn hat es, dass Menschen leiden?
Wenn man hier weiterkommen will, muss man erst mal fragen, was „Leid“ überhaupt ist.
Was empfinden Sie als Leid? Was empfinden Menschen allgemein als Leid? – Darauf gibt es sehr viele, sehr unterschiedliche Antworten. Der eine leidet unter einer schweren Erkrankung, während ein anderer sie klaglos hinnimmt. Für einen Menschen bedeutet der Verlust des Arbeitsplatzes eine Katastrophe, ein anderer sieht darin eine Chance auf einen Neubeginn. Manche Menschen können einen materiellen Verlust nicht überwinden, für andere bedeutet das nichts. Viele leiden unter ihrem Alter und der damit verbundenen Gebrechlichkeit. Andere freuen sich an jedem Tag, den sie noch leben können.
Daneben gibt es aber auch Dinge, die wohl allgemein von jedem Menschen als Leid gesehen werden. Krieg und Gewalt zum Beispiel. Oder Missbrauch in jeder Form. Unfreiheit in jeder Form. Der Tod eines geliebten Menschen.
Allen gemein ist, dass eine Leiderfahrung immer mit einem Verlust verbunden ist. Man leidet weil man etwas verliert: Die Gesundheit, den Arbeitsplatz, Besitz, einen Menschen, ein friedliches Leben, Geborgenheit, seine Heimat, die Freiheit, Vertrauen in sich oder in andere, sein eigenes Leben.

Schaut man sich die Ursachen dieser Leiderfahrungen an, so kann man zweierlei erkennen:
Leid entsteht, weil Menschen einander dieses Leid zufügen; und es entsteht, weil die Welt so ist wie sie ist.
Schauen wir uns zunächst einmal das Letztere an. Wie ist denn die Welt?

Die Welt ist in Bewegung. Von den gigantisch riesigen Galaxien bis zu den unvorstellbar kleinen Bestandteilen des Atoms: Alles bewegt sich, pausenlos. Es gibt keinen Stillstand, nirgendwo und niemals im gesamten Universum. Das Universum selbst dehnt sich aus, die Galaxien darin drehen sich, die Planeten drehen sich um die Sonnen und um sich selbst, die Erdkruste, die Erdoberfläche und das Erdinnere sind in ständiger Bewegung, das Klima ändert sich unaufhörlich (auch ohne menschliche Beteiligung), jedes Lebewesen entsteht, wächst und stirbt, jede Zelle in Ihrem Körper altert und wird durch neue Zellen ersetzt, Ihr ganzer Körper ist voller Bewegung – das Blut fließt, Strom strömt, Hormone wandern, Enzyme flitzen umher, Luft kommt rein und raus -, jede Körperzelle ist ununterbrochen aktiv, jedes Atom jeder Zelle besteht aus bewegten Teilchen.

Bewegung heißt aber Veränderung. Und Veränderung heißt Gewinnen und Verlieren. Neues entsteht, Altes vergeht. Der Lauf der Welt ist seit ihrem Anbeginn ein ständiges ununterbrochenes Neuwerden, Wachsen, Vergehen, Sterben, Umwandeln, Neuwerden. Immer und überall, auf allen Ebenen.
Auch auf der Ebene meines ganz persönlichen Lebens. Ich bin irgendwann einmal neu geworden, und zwar dadurch, dass meine Eltern Körperzellen verloren haben. Ein kleiner Teil dieser Zellen hat sich vereinigt und umgewandelt in etwas Neues: Mich. Ich bin gewachsen, aber dieses Wachsen war immer auch mit Verlusten verbunden. Neue Körperzellen haben alte ersetzt. Neue Erfahrungen haben alte Einstellungen verdrängt. In der Pubertät habe ich das Kindsein verloren und das Erwachsensein gewonnen. Mit wachsender Reife habe ich immer mehr Unschuld eingebüßt.
Seit einigen Jahren überwiegt der Verlust den Neugewinn. Dieses Verhältnis wird mit zunehmendem Alter immer weiter auseinanderklaffen. Bis ich schließlich alles in dieser Welt verlieren werde.

Verlust ist also etwas ganz Natürliches. Die Welt funktioniert nicht ohne Verlust. Kein Mensch kann leben ohne zu verlieren. Und zwar ständig.
Verlust ist etwas Natürliches, das zum Leben dazugehört. So natürlich wie Atmen. Warum leiden dann Menschen unter Verlusten, während sie sich nie darüber beklagen, dass sie atmen müssen? (Außer starke Raucher.)
Hier kommt eine menschliche Grundeigenschaft zum Tragen: Der durchschnittliche Mensch sieht nicht das was er hat, er sieht nur das, was er nicht (mehr) hat. Das was man hat, ist selbstverständlich. Was man nicht hat, darauf wird das Denken und Handeln gerichtet. Und etwas zu verlieren was man schon hatte, ist die schlimmste Erfahrung.

Für Lieschen Müller ist es selbstverständlich, dass sie lebt. Genauso selbstverständlich ist es für sie, dass ihr Mann lebt, ihre Kinder, ihre Freundinnen. Sie verschwendet keinen Gedanken daran, dass es anders sein könnte. Dass sie bei der Zeugung überhaupt nicht hätte entstehen können; dass ihre Kinder nicht hätten entstehen können. Dass ihr Mann drei Tage nach seiner Zeugung hätte sterben können und sie ihn nie kennengelernt hätte – und ihn dann nicht einmal vermissen würde.
Lieschen Müller denkt auch nicht daran, dass sie für dieses scheinbar selbstverständliche Leben selbst überhaupt nichts beigetragen hat. Sie lebt einfach, ohne jeden eigenen Verdienst.
Und irgendwann ist diese Selbstverständlichkeit zu Ende. Völlig überraschend tritt ein Ereignis ein, von dem Lieschen Müller wusste, dass es kommt, seit sie zu denken in der Lage war.
Und Lieschen Müller leidet.

Leid entsteht, weil die Welt so ist, wie sie ist, hat der alte weise Mann oben gesagt. Was nicht ganz richtig ist. Genauer gesagt gilt: Leid entsteht, weil die Menschen nicht akzeptieren können, dass die Welt so ist wie sie ist.
Weil die Menschen nicht verlieren können. Sie können nicht verlieren, weil sie das was sie haben als selbstverständlich sehen und den Verlust als unnormal empfinden. Weil sie in diesem Punkt in einer nicht existierenden Welt leben und leiden, wenn sie auf die reale Welt treffen.

Alles in dieser Welt ist nur vorübergehend. Nichts bleibt. Ich kann daran leiden oder ich kann es annehmen und mein Leben daran ausrichten.

Dieses Leiden an der Realität wird noch durch eine weitere Eigenheit des Menschen verstärkt: Die meisten Menschen neigen dazu, alles was bisher war, als Entwicklung zu sehen, die zum jetzigen Zustand geführt hat – und mit diesem Zustand jetzt hört die Entwicklung auf. So wie es jetzt ist, bleibt es endgültig. Bisher war alles Veränderung, okay, aber ab sofort hört sich das auf. Ab jetzt gibt es keine Veränderung mehr, keinen Verlust. Und wenn es dann nicht so bleibt, erzeugt das Leid.
Beispiele gefällig?
* Max Mustermann denkt: So wie unser Land jetzt ist, ist das Folge jahrhundertelanger Entwicklung. Es ging mal hoch und zwischenzeitlich auch ganz tief runter. Aber mit dem jetzigen Zustand ist ein Endpunkt erreicht. Dieses Land wird und darf sich nicht mehr verändern.
Wenn dann doch eine Veränderung kommt in Form von hunderttausenden neu ankommenden Menschen, dann ist das eine Katastrophe. Nicht weil es negative Auswirkungen haben könnte, sondern allein, weil es Veränderungen bringt.
* Max Mustermann denkt: Meine körperliche Leistungsfähigkeit hat sich immer weiter entwickelt. Jetzt, in der Blüte meines Lebens, habe ich den endgültigen, stabilen Zustand erreicht.
Wenn dann der Körper sich dennoch weiter entwickelt, z.B. nach unten durch eine Krankheit, dann leidet Max.
* Max Mustermann hat sich verliebt. Er denkt: Es ist schön, wie unsere Liebe sich entwickelt hat. So wie sie jetzt ist, wird sie immer bleiben. – Das tut die Liebe aber nicht. Nie. Max kann aber die Veränderung nicht annehmen, sondern sieht sie als Verlust und leidet.

Es ist natürlich äußerst unangenehm wenn ich schwer krank werde. Es ist kein Grund zur Freude, wenn ein geliebter Mensch stirbt. Es ist zum Trauern, wenn tausende bei einem Erdbeben sterben. Aber all das sind Ereignisse, die in der Natur der Welt liegen. Ereignisse, die ganz natürlich sind. Von denen jeder Mensch weiß, dass sie passieren können. Ereignisse, auf die man sich deshalb vorbereiten kann, auf die man sich auch geistig einstellen kann. Ereignisse, die dann nicht weniger unerfreulich sind, aber an denen man dann nicht mehr leidet und zerbricht.
Und alles auf dieser Welt ist nur vorübergehend. Alles ändert sich, nichts bleibt. Dies auszublenden führt immer zu Leid-Erfahrungen.
Diese Art von Leid – Leid an der Welt, weil man ignoriert, dass die Welt so ist wie sie ist – entsteht also durch das Denken des Leidenden. Es ist selbstgemacht.
Wie sieht es nun mit der anderen Art von Leid aus, dem Leid, das sich Menschen zufügen? – Dazu später mehr.

Ein Sinn-loser Text

Unser Leben ist Sinn-los. Nicht sinnlos, aber Sinn-los. Denn unabhängig davon, ob am Anfang des Lebens, des Universums und allem Gott steht oder Nichts: Dort am Anfang endet auf jeden Fall die Frage nach dem Sinn. Am Anfang ist einfach etwas – eben Gott oder Nichts. Egal was es ist: Es hat keinen Ursprung, keinen Grund und damit keinen Sinn.

Der alte weise Mann glaubt – weiß -, dass am Anfang Gott steht. Der Gott, den Jesus verkündet hat. Dieser Gott ist Sinn-los. Denn dieser Gott ist. Er ist noch bevor es die Zeit gab. Bei ihm gibt es kein Davor, kein Jetzt und kein Danach. Bei ihm gibt es deshalb auch keine Ursache und keine Wirkung. Und deshalb muss er auch nichts tun. Es gibt nichts, was seinen freien Willen ein­schränkt und deshalb in irgendeine Richtung lenken würde. Es gibt keinen Grund, weshalb er ist und weshalb er so ist wie er ist. Dieser Gott hat keinen Sinn.

Aber dieser Gott gibt Sinn. Er gibt unserem Leben Sinn.

Dieser Sinn kommt von der erstaunlichsten Tatsache in diesem Universum: Die Tatsache, dass es dieses Universum überhaupt gibt. Es wäre wesentlich einfacher, naheliegender und natürlicher, dass es Nichts gibt. Für Nichts braucht es keinen Grund, keine Begründung, keine Regeln. Nichts wäre von jeder Logik her der Normalzustand. Die bloße Existenz dieser Welt macht alles kompliziert. Alle Fragen ergeben sich nur daraus, dass das Universum existiert.

Der alte weise Mann glaubt/weiß, dass Gott dieses Universum geschaffen hat. Dieser Gott, für den es keine Ursache gibt. Der einfach ist. Er musste das alles nicht tun. Es gab keinen Grund dafür. Die Erschaffung der Welt war Sinn-los.

Genau das ist es jedoch, was unserem Leben Sinn gibt. Klingt widersinnig, und ist es auch.

Wir leben weil Gott uns erschaffen hat. Wie gesagt, er musste das nicht tun. Er musste auch nicht genau Sie oder genau Ihren Nachbarn erschaffen. Das Ganze war aber auch keine Willkür. Denn bei Gott gibt es nicht das Gesetz von Ursache und Wirkung. Ursache und Wirkung sind an Zeit gebunden; und bei Gott gibt es keine Zeit. Deshalb muss Gott auch nicht verschiedene Handlungsmöglichkeiten gegeneinander abwägen und dann Entscheidun­gen treffen. Bei ihm ist alles eins. Deshalb muss er nichts tun, deshalb macht er aber auch nicht etwas einfach so. Gott macht. Weil Gott ist. Punkt.

Das ist bei uns Menschen anders. So anders, dass wir wenig bis gar keine Worte dafür haben wie Gott ist und handelt. Wir brauchen Grundlagen für unsere Entscheidungen. Wir können uns nicht von diesem Leben aus Ursache und Wirkung lösen. Genau deshalb verstört es uns ja auch so, wenn etwas „einfach so“ geschieht. Mit Zufällen können wir nicht leben. Das hal­ten wir nicht aus. Wir brauchen Zusammenhänge, wir brauchen Sinn. Aus diesem Grund un­terstellen dann auch Menschen, die an einen Gott glauben, diesem Gott irgendwelche Motive für sein Handeln und Nicht-Handeln. Aber das ist die menschliche Sicht. Gott hat keine Moti­ve, Gott ist aber auch nicht willkürlich. Gott ist.

Und so hat Gott dadurch dass er diese Welt erschaffen hat, ihr den Sinn gegeben. Dadurch hat Gott Ihnen und mir Sinn gegeben. Er hat Sie und den Rest der Menschheit gemacht, und unser Sinn ist es, zu sein. In dem zu sein, der uns den Sinn gibt. In Gott zu sein und Gott in uns sein zu lassen. Nicht nur ein bisschen. Nicht nur in bestimmten Bereichen. Sondern „mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft“, wie es im Glaubensbekenntnis der Juden heißt.

Gott ist. Und deshalb ist unser Sinn, ebenfalls zu sein. In Gott zu sein. Denn Gott hat keinen Sinn. Gott ist der Sinn.

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Und was heißt das jetzt konkret? Was bedeutet „In Gott sein“ für mein Leben? Mehr dazu in diesem Artikel!

Moral

Der Mensch ist in erster Linie bequem. Und er denkt rationell und nicht rational. Eine der Auswirkungen dieser Grundeinstellungen ist es, dass sich Menschen Regeln ge­ben. Menschen sind schlicht zu bequem (positiv formuliert: zu rationell), sich jeden Tag neu überlegen zu müssen, wie sie sich denn heute verhalten sollen. Das wäre ja auch einfach un­praktisch, und man käme zu nichts, weil man sich jeden Tag mit allen Mitmenschen neu ver­ständigen müsste, was heute falsch und richtig ist.

Deshalb werden in jeder Gesellschaft Regeln aufgestellt, was als „gut“ gilt und was als „böse“, was man tun muss, was man tun darf, was man nicht tun darf, aber toleriert wird, was man auf gar keinen Fall tun darf. Diese Regeln gibt es in schriftlicher Form als Gesetze, als ausdrücklich benannte, aber nirgends festgehaltene Verhaltensvorschriften, als unausgespro­chene Übereinkünfte. Die Gesamtheit dieser Regeln ist die Moral.

Nun sehen viele Menschen Moral als etwas das „war schon immer so, das haben wir ja noch nie gemacht und da könnte ja jeder kommen“. Moral als etwas Festes, Unabänderbares. Unse­re Moral in unserer Gesellschaft zu unserer Zeit gilt unverrückbar für alle Zeiten und alle Ge­sellschaften. Wer gegen diese jetzt bei uns geltende Moral verstößt, ist böse. Egal ob dieser Verstoß vor zweitausend Jahren begangen wurde oder in einem anderen Land mit einer völlig anderen Kultur.

Man kann Moral so sehen. Und bis zu einem gewissen Grad muss man das auch. Wenn man sich völlig von der Vorstellung von Moral als etwas Festem und Dauerhaftem löst, löst man sich damit von allen Regeln. Moral heißt dann „Jeder wie er will“. Das führt sehr schnell ers­tens zu dem unbequemen Zustand, dass sich jeder wieder jeden Tag neu seine Moral zurecht­legen und mit allen anderen um ihn herum neu verhandeln muss. Weil das keiner lange durch­hält (zu unbequem), führt das zweitens dazu, dass sich die ganz Bequemen die Moral von den weniger Bequemen aufdrücken lassen. Was drittens ganz schnell zum Recht des Stärkeren führt und dieses viertens unter dem Deckmantel der Toleranz (weil ja jeder darf wie er will) zu einer Moraldiktatur dieser Starken führt.

Moral muss also beständig sein. Dennoch ändert sich Moral pausenlos. Das geht auch gar nicht anders. Denn wie entsteht Moral?

Ein Mensch für sich allein braucht keine Moral. Zunächst einmal. Der berühmte Schiffbrüchi­ge auf einer einsamen Insel tut einfach was zu tun ist, um zu überleben. „Gut“ ist für ihn, was ihm zum Überleben dient, „schlecht“ ist, was ihm in irgendeiner Form schadet. Daraus entste­hen ganz von allein, ohne großes bewusstes Zutun, Regeln. „Dieses Tier töten ist schlecht, weil mir von dem Fleisch übel wird.“ „Einmal am Tag den Horizont absuchen ist gut, weil vielleicht ein Schiff vorbeikommen könnte.“ Und schwupp, hat der Schiffbrüchige eine Moral entwickelt.

Genau so läuft es, wenn mehrere Menschen zusammen sind. Da entstehen von ganz allein Re­geln und Normen. Nur dass es hier etwas komplizierter wird. Je mehr Menschen ihr Zusam­menleben regeln müssen, umso komplexer wird es. Klar.

Denn auch hier gilt als Basis: Gut ist, was dem Überleben dient. Schlecht ist alles andere. Aber es geht jetzt nicht mehr um das Überleben des Einzelnen, sondern um die Familie / die Sippe / das Volk. Da kann es dann durchaus gut sein, das Überleben einzelner Menschen zu gefährden, um den Weiterbestand des Ganzen zu sichern. Etwa durch einen Krieg. Oder die Hinrichtung von Menschen, die gegen die Normen verstoßen.

Es steht auf dieser Stufe der Moralbildung nicht der Einzelne im Mittelpunkt, sondern das Ganze. Das gilt so lange wie das Überleben der Gruppe durchgehend akut gefährdet ist.

Ein schönes Beispiel für diese Ebene der Moral ist das Alte Testament. Dort findet sich ja die gesamte Moral eines bestimmten Volkes, soweit sie schriftlich fixiert wurde. Und hier dreht sich alles um die Sicherung des Fortbestands dieses Volkes. Sexualität, Beziehungen, Famili­enleben, Berufsleben, wirtschaftliches Verhalten, Ernährung, Religion: Bei allem steht im Vordergrund der Nutzen für das Bestehen des Volkes. „Gut“ ist, was der Erhaltung und der Vermehrung dient, „schlecht“ ist alles, was zur Dezimierung führen könnte.

Beispiel Sexual- und Beziehungsmoral: Wichtig und richtig bei der Partnerwahl ist, dass die neu entstehende Beziehung die Sippe (und damit das Volk) stärkt. Deshalb soll nichts Frem­des gewählt werden, deshalb ist die Wirtschaftskraft des Partners wichtig und der soziale Rang. Deshalb ist Sex außerhalb von Beziehungen „böse“, vor allem bei Frauen. Denn dabei kann ein „fremdes“ Kind entstehen, das durchgefüttert werden muss, obwohl es nicht zur Sip­pe gehört. Weshalb es „gut“ ist, in einem solchen Fall die Frau mitsamt Kind zu verstoßen.

Sex dient vor allem zur Fortpflanzung. Deshalb ist Verhütung „böse“, deshalb ist es „gut“, wenn er im Rahmen einer dauerhaften Beziehung regelmäßig stattfindet. Ob die Beteiligten Spaß dabei haben, ist nebensächlich. Sie dürfen, aber sie müssen nicht. Hauptsache man pflanzt sich fort.

So war das nicht nur beim jüdischen Volk vor ein paar tausend Jahren. So ist das in vielen Ge­sellschaften durch die gesamte Geschichte der Menschheit bis heute. Solange es ums Überle­ben geht, wird die Moral von diesem Überlebenskampf bestimmt.

Erst wenn sich die Umstände so ändern, dass die Gesellschaft nicht in ihrer Existenz bedroht ist, ändert sich auch die Moral. Dazu sind drei Voraussetzungen nötig: Es darf keine Bedro­hung materieller Art geben (d.h. ausreichende Versorgung ist sichergestellt); es darf keine Be­drohung durch andere Gesellschaften geben; dieser Zustand muss über lange Zeit anhalten.

Erst wenn diese Voraussetzungen gegeben sind, kann es sich eine Gesellschaft leisten, ande­res als das Überleben dieser Gesellschaft in den Mittelpunkt zu stellen. In den meisten Fällen bedeutet das: „Gut“ und „böse“ wird immer weniger das, was dem Ganzen dient. „Gut“ und „böse“ wird zunehmend vom Nutzen für den einzelnen her definiert.

So konnte die Vorstellung von der „Menschenwürde“ erst entstehen, als die Völker in Mittel­europa so reich und technisch überlegen geworden waren, dass sie nicht mehr von der Auslö­schung durch Hunger oder Kriegszüge anderer Völker bedroht waren. Das alles gab es zwar noch, aber es war nicht mehr existenzbedrohend. Und erst zu diesem Zeitpunkt konnte man es sich erlauben, die Moral an den Bedürfnissen der einzelnen Menschen auszurichten.

Je sicherer die Umstände wurden, umso mehr trat der Einzelne in den Vordergrund. Sobald die Umstände jedoch wieder existenzbedrohend wurden, orientierte sich die Moral aber wie­der an den Bedürfnissen des Ganzen. „Das Volk“, „der Staat“ wurde dann wichtig.

Die Gesellschaft in Deutschland in der heutigen Zeit ist seit längerem von keiner realen Ge­fahr in ihrer Existenz bedroht. Deshalb hat sich immer stärker eine Moral für den Einzelnen entwickelt. Das zeigt sich in den Gesetzen. Das zeigt sich im Umgang untereinander, im Fernsehprogramm und in den anderen Medien, in der Stadtplanung und -gestaltung, in der Art wie Beziehungen gestaltet werden, in der Erziehung der Kinder, im Sexualverhalten und in al­len anderen Lebensgebieten.

Das alles hat Auswirkungen. Man kann diese Auswirkungen positiv beurteilen oder negativ. Man kann versuchen, sie zu beseitigen oder sie zu verstärken. Aber eins wird man nicht errei­chen: Die Tatsache zu ändern, dass Moral von den Umständen geformt wird.

Ich schreibe bewusst „geformt“ und nicht „bestimmt“. Denn kein Mensch ist den Umständen willenlos ausgeliefert. Die Lebensumstände formen und prägen einen Menschen, aber jeder Mensch ist auch in der Lage, seinerseits seine Lebensumstände zu formen. Zumindest in ei­nem gewissen Rahmen. Und damit wird auch die Moral eines Menschen nicht nur von den Umständen geformt, sondern jeder Mensch kann in einem gewissen Rahmen seine Moral un­abhängig von den Umständen entwickeln.

Der gewisse Rahmen allerdings bleibt. Ein armer Mensch etwa hat ganz von selbst eine ande­re Moral als ein reicher Mensch. Er kann versuchen, bewusst diese Moral zu ändern, und da­bei auch erfolgreich sein. Aber solange die Umstände so bleiben wie sie sind, werden in sei­nem armen Leben andere Fragen und Themen vorherrschen als im Leben eines reichen Men­schen. Unterschiedliche Lebensthemen bewirken aber unterschiedliche Sichtweisen, die wie­derum Einfluss auf die Moral haben. Für einen armen Menschen hat zum Beispiel materielle Sicherheit einen anderen moralischen Wert als für einen reichen Menschen.

Was für den einzelnen Menschen gilt, gilt auch für ganze Gesellschaften. Auch deren Moral wird von den Umständen geformt. Hören Sie mal alten deutschen Menschen zu, wie sehr de­ren Moral von dem Umstand beeinflusst wird, dass sie einen totalen Krieg und eine totale Niederlage erlebt haben. Allein diese Erfahrung hat in den letzten Jahrzehnten in Deutschland zu anderen moralischen Werten geführt als in seinen Nachbarstaaten, etwa beim Verhältnis zu Gewalt sowohl auf staatlicher als auch auf privater Ebene.

Oder die Erfindung eines Medikaments zur Empfängnisverhütung. Damit wurde Sex von der Möglichkeit der Fortpflanzung abgekoppelt, was die Sexualmoral ganz entscheidend verän­dert hat. Erstmals in der Geschichte der Menschheit konnte man Sex nur zum Spaß haben, er diente nicht mehr zwangsläufig ausschließlich zum Erhalt des Volkes/der Sippe/der Familie. Somit bestand keine Notwendigkeit mehr, Sex nur in einem Rahmen auszuüben, in dem die dadurch entstehenden Kinder geschützt aufwachsen konnten. Sex war nun auch vor der Ehe „gut“, da nicht schädlich fürs Ganze.

Doch nicht nur die Sexualmoral änderte sich mit der Verbreitung der „Pille“. Auch die Bezie­hungsmoral wurde wesentlich davon beeinflusst, in Verbindung mit der Abwendung der Mo­ral vom Ganzen hin zum Einzelnen. Feste, dauerhafte Beziehungen wurden für den Fortbe­stand der Gemeinschaft immer unwichtiger – und der Fortbestand der Gemeinschaft an sich geriet schon immer mehr aus dem Blickfeld. Der Kern von Beziehungen ist nun nicht mehr Stabilität und Sicherheit (zum Zwecke des Fortbestands der Gemeinschaft), sondern Selbst­verwirklichung und Wunscherfüllung. Beziehungen sind nur solange „gut“, solange sie mei­ner Befriedigung meiner Wünsche dienen. Kann eine Beziehung das nicht mehr leisten, ist es „richtig“, sie zu beenden.

Moral ändert sich, wenn sich die Umstände ändern. Und Moral muss, um ihren Zweck zu er­füllen, als etwas Festes gesehen werden. Das ist ein Widerspruch, der immer wieder zu Kon­flikten führt – immer dann, wenn sich die Umstände so stark ändern, dass sie die Moral beein­flussen. Da gibt es dann die, die die alte Moral bewahren wollen. Die die veränderten Um­stände ignorieren und eine Anpassung der Moral als „böse“ bewerten. Auf der anderen Seite sind die, die sich von den geänderten Umständen nicht nur formen lassen, sondern ganz und gar bestimmen lassen. Die alles für „gut“ befinden, was anders ist als das Bisherige. Und zwi­schen den beiden Extremstandpunkten gibt es tausende unterschiedlicher Abstufungen bis hin zu „Ist mir doch alles völlig egal“.

Am Ende führt dieser Konflikt zu einer neuen, angepassten Moral. Oft dauert diese konflikt­reiche Periode mehrere Generationen an. Manchmal, wenn es zu großen Umwälzungen kommt, betrifft dieser Konflikt die gesamte Moral einer Gemeinschaft. Wenn sich nur ein Be­reich der Umstände ändert, ändert sich auch nur der betreffende Bereich der Moral. Dieser kann allerdings wieder Auswirkungen auf andere Bereiche haben.

Selbst-Beherrschung

„Weiter, immer weiter“ hat ein Titan des Sports gesagt. Das ist das Mantra unserer Kultur. Es geht immer noch ein bisschen besser. Der Mensch kann alles erreichen, wenn er nur genügend will.

Das ist auch nicht ganz verkehrt. Der Mensch an sich hat schon erstaunlich viel in erstaunlich kurzer Zeit erreicht. Und auch Sie ganz persönlich können weiter kommen, immer weiter, wenn Sie sich nur entsprechend darum bemühen.

Aber das alles hat Grenzen. Irgendwo geht es nicht mehr weiter. Irgendwo gibt es einen Punkt, da sind Sie ganz und gar machtlos. Es gibt da nicht nur einen Punkt, es sind sehr viele Punkte, die aneinandergereiht eine massive Mauer ergeben. Hier ist mal eine (vermutlich unvollständige) Liste, was Sie alles nicht im Griff haben:

  • Die Tatsache dass Sie überhaupt leben
  • Ihre genetische Ausstattung
  • Die Tatsache, wer Ihnen diese genetische Ausstattung weitergegeben hat – also Ihre Eltern und Ihre ganzen Vorfahren
  • Die Prägung durch Ihr soziales Umfeld, durch Ihre Eltern, Ihre Familie, Ihr Dorf / Ihre Stadt, Ihr Land, die Zeit, in die Sie hineingeboren wurden
  • Das alles, was daraus resultiert: Ihr Charakter, Ihre Begabungen, Ihre Unfähigkeiten, Ihr Körper
  • Ihre Vorlieben und Abneigungen – die sind einfach da, und Sie können Sie nicht willentlich aus- und anschalten, höchstens verdrängen
  • Ihre Gedanken – die kommen einfach; Sie können nicht beschließen, jetzt absichtlich an etwas zu denken, denn in dem Moment dieses Entschlusses denken Sie ja schon daran
  • Ihr Erinnern und Vergessen
  • Alles was unbewusst in Ihnen abläuft, seelisch, geistig und körperlich
  • Einflüsse auf Ihr Leben durch andere, z.B. durch die Autofahrerin, die Sie vom Fahrrad runterfährt weil sie gerade auf ihr Handy schaut
  • Ihre Vergangenheit, mitsamt all den Erfahrungen, die Sie da gemacht haben
  • Krankheiten
  • Die Dauer Ihres Lebens

Das alles haben Sie nicht im Griff. Sie haben es sich nicht ausgesucht. Es ist einfach so. Sie können bei manchen Dingen in einem engen Rahmen etwas daran ändern. Sie können durch eine entsprechende Lebensweise versuchen, Krankheiten zu verhindern und Ihr Leben zu verlängern. Ob das aber zum Erfolg führt, das können Sie wiederum nicht beeinflussen. Sie können durch Ihr Verhalten versuchen, Unglücke aller Art zu vermeiden. Aber es kann Ihnen dann trotzdem etwas zustoßen. Sie können durch Bildung Ihre Intelligenz in geringem Maße steigern. Aber ob Sie überhaupt den Antrieb dazu haben: Das haben Sie nicht im Griff. Sie können die Prägung durch Ihre Eltern und Ihr frühes Umfeld geringfügig verändern – ganz davon los kommen Sie nie.

Was immer geht: Kaputt machen. Ihre Intelligenz auf null herunterzufahren ist leicht. Es braucht nur genügend Einsatz von Alkohol oder Drogen. Leben verlängern ist aufwendig und ungewiss. Leben vorzeitig beenden ist wesentlich einfacher. Vielleicht haben Menschen deshalb so eine Lust an der Zerstörung. Weil sie damit endlich Macht ausüben können.

„Weiter, immer weiter“ – bis man gegen die Mauer rennt. Was täglich hunderte Male geschieht. Und wir haben uns schon so an die Schrammen und Beulen gewöhnt, dass wir sie gar nicht mehr wahrnehmen und auch die Mauer ignorieren und meinen, wir könnten uns selbst beherrschen. Der Mensch ist schon ein putziges Wesen.

Leben mit Ihm

Jesus ist das Zentrum, um das sich alles dreht, hat der alte weise Mann im vorigen Artikel geschrieben. Was heißt das nun in der Praxis? Wie lebt es sich mit Jesus und seinem Vater und in ihrem Geist?

Aus über fünfzig Jahren Erfahrung gesagt: Es lebt sich gut. Es lebt sich leicht. Leichter jedenfalls als ein Leben ganz allein auf sich selbst gestellt. Manchmal ist es auch ein Kampf, gelegentlich steht man verwirrt und/oder verwundert da, man durchlebt Höhen und Tiefen. Aber man durchlebt sie leichter.

Wenn man mit Jesus lebt, ändert sich nichts und alles. Man bleibt immer noch der selbe Mensch, mit allen Stärken und Schwächen. Was sich ändert: Man lebt in dem Bewusstsein, dass man nicht allein ist. Dass man seine Existenz nicht allein aus eigener Kraft bewältigen muss. Dass es da jemanden gibt, der gut zu mir ist und der praktischerweise auch noch allmächtig ist. Was in der Praxis bedeutet: Im Leben mit Gott ist alles möglich. Auch das Unmögliche. Was wiederum in der praktischen Anwendung der Praxis bedeutet: Ich muss vor nichts Angst haben. Ich kann mir und dem Rest der Welt alles zutrauen.

Wobei: Das ist jetzt nicht ganz korrekt formuliert. Es steigt nicht das Zutrauen in mich selbst oder den Rest der Welt. Es steigt das Zutrauen in Gott. Gott bewirkt alles. Wenn mein Glaube an Gott, an Jesus nur der Selbstoptimierung dient, dann scheitert er. Dann scheitere ich mit meinem Leben. Dann benutze ich Gott nur als Hilfsmittel für meine Zwecke. Was immer schief geht.

Mein Selbstzutrauen steigt wenn ich dem Bewusstsein lebe, dass es nicht um mich geht. Dass „der Erfolg“ nicht von mir abhängt. Wenn ich mich ganz in Gott fallen lasse, dann bin ich der Größte, Stärkste, Erfolgreichste. Paradox. Aber leicht zu leben. Ehrlich.

Das Ganze gilt allerdings unter einer Voraussetzung. Das hat der alte weise Mann hier schon öfter gesagt, und er wird es noch oft sagen: Es geht bei all dem Gesagten hier nicht zuerst um Lebensbewältigung, es geht um Wahrheit. Wenn dieser Gott nicht existiert, wenn dieser Jesus nicht Gott ist, dann ist auch dieses ganze Selbstzutrauen in völliger Hingabe an diesen Gott eine Illusion. Dann ist mein ganzes Leben, Ihr ganzes Leben mit diesem Gott komplett für’n Arsch.

Deshalb gilt: Zu einem Leben mit Jesus gehört auch immer wieder der Blick auf eben diesen Jesus, auf seinen Vater, auf ihren Geist. Ein ehrlicher Blick. Nicht ein Fragen nach dem Motto „Was hätte ich denn gerne, damit ich weiter beruhigt vor mich hinwurschteln kann?“. Sondern immer wieder die Frage: „Wie ist die Realität?“ Also die reale Realität, nicht Ihre persönliche Wunschrealität.