Moral

Der Mensch ist in erster Linie bequem. Und er denkt rationell und nicht rational. Eine der Auswirkungen dieser Grundeinstellungen ist es, dass sich Menschen Regeln ge­ben. Menschen sind schlicht zu bequem (positiv formuliert: zu rationell), sich jeden Tag neu überlegen zu müssen, wie sie sich denn heute verhalten sollen. Das wäre ja auch einfach un­praktisch, und man käme zu nichts, weil man sich jeden Tag mit allen Mitmenschen neu ver­ständigen müsste, was heute falsch und richtig ist.

Deshalb werden in jeder Gesellschaft Regeln aufgestellt, was als „gut“ gilt und was als „böse“, was man tun muss, was man tun darf, was man nicht tun darf, aber toleriert wird, was man auf gar keinen Fall tun darf. Diese Regeln gibt es in schriftlicher Form als Gesetze, als ausdrücklich benannte, aber nirgends festgehaltene Verhaltensvorschriften, als unausgespro­chene Übereinkünfte. Die Gesamtheit dieser Regeln ist die Moral.

Nun sehen viele Menschen Moral als etwas das „war schon immer so, das haben wir ja noch nie gemacht und da könnte ja jeder kommen“. Moral als etwas Festes, Unabänderbares. Unse­re Moral in unserer Gesellschaft zu unserer Zeit gilt unverrückbar für alle Zeiten und alle Ge­sellschaften. Wer gegen diese jetzt bei uns geltende Moral verstößt, ist böse. Egal ob dieser Verstoß vor zweitausend Jahren begangen wurde oder in einem anderen Land mit einer völlig anderen Kultur.

Man kann Moral so sehen. Und bis zu einem gewissen Grad muss man das auch. Wenn man sich völlig von der Vorstellung von Moral als etwas Festem und Dauerhaftem löst, löst man sich damit von allen Regeln. Moral heißt dann „Jeder wie er will“. Das führt sehr schnell ers­tens zu dem unbequemen Zustand, dass sich jeder wieder jeden Tag neu seine Moral zurecht­legen und mit allen anderen um ihn herum neu verhandeln muss. Weil das keiner lange durch­hält (zu unbequem), führt das zweitens dazu, dass sich die ganz Bequemen die Moral von den weniger Bequemen aufdrücken lassen. Was drittens ganz schnell zum Recht des Stärkeren führt und dieses viertens unter dem Deckmantel der Toleranz (weil ja jeder darf wie er will) zu einer Moraldiktatur dieser Starken führt.

Moral muss also beständig sein. Dennoch ändert sich Moral pausenlos. Das geht auch gar nicht anders. Denn wie entsteht Moral?

Ein Mensch für sich allein braucht keine Moral. Zunächst einmal. Der berühmte Schiffbrüchi­ge auf einer einsamen Insel tut einfach was zu tun ist, um zu überleben. „Gut“ ist für ihn, was ihm zum Überleben dient, „schlecht“ ist, was ihm in irgendeiner Form schadet. Daraus entste­hen ganz von allein, ohne großes bewusstes Zutun, Regeln. „Dieses Tier töten ist schlecht, weil mir von dem Fleisch übel wird.“ „Einmal am Tag den Horizont absuchen ist gut, weil vielleicht ein Schiff vorbeikommen könnte.“ Und schwupp, hat der Schiffbrüchige eine Moral entwickelt.

Genau so läuft es, wenn mehrere Menschen zusammen sind. Da entstehen von ganz allein Re­geln und Normen. Nur dass es hier etwas komplizierter wird. Je mehr Menschen ihr Zusam­menleben regeln müssen, umso komplexer wird es. Klar.

Denn auch hier gilt als Basis: Gut ist, was dem Überleben dient. Schlecht ist alles andere. Aber es geht jetzt nicht mehr um das Überleben des Einzelnen, sondern um die Familie / die Sippe / das Volk. Da kann es dann durchaus gut sein, das Überleben einzelner Menschen zu gefährden, um den Weiterbestand des Ganzen zu sichern. Etwa durch einen Krieg. Oder die Hinrichtung von Menschen, die gegen die Normen verstoßen.

Es steht auf dieser Stufe der Moralbildung nicht der Einzelne im Mittelpunkt, sondern das Ganze. Das gilt so lange wie das Überleben der Gruppe durchgehend akut gefährdet ist.

Ein schönes Beispiel für diese Ebene der Moral ist das Alte Testament. Dort findet sich ja die gesamte Moral eines bestimmten Volkes, soweit sie schriftlich fixiert wurde. Und hier dreht sich alles um die Sicherung des Fortbestands dieses Volkes. Sexualität, Beziehungen, Famili­enleben, Berufsleben, wirtschaftliches Verhalten, Ernährung, Religion: Bei allem steht im Vordergrund der Nutzen für das Bestehen des Volkes. „Gut“ ist, was der Erhaltung und der Vermehrung dient, „schlecht“ ist alles, was zur Dezimierung führen könnte.

Beispiel Sexual- und Beziehungsmoral: Wichtig und richtig bei der Partnerwahl ist, dass die neu entstehende Beziehung die Sippe (und damit das Volk) stärkt. Deshalb soll nichts Frem­des gewählt werden, deshalb ist die Wirtschaftskraft des Partners wichtig und der soziale Rang. Deshalb ist Sex außerhalb von Beziehungen „böse“, vor allem bei Frauen. Denn dabei kann ein „fremdes“ Kind entstehen, das durchgefüttert werden muss, obwohl es nicht zur Sip­pe gehört. Weshalb es „gut“ ist, in einem solchen Fall die Frau mitsamt Kind zu verstoßen.

Sex dient vor allem zur Fortpflanzung. Deshalb ist Verhütung „böse“, deshalb ist es „gut“, wenn er im Rahmen einer dauerhaften Beziehung regelmäßig stattfindet. Ob die Beteiligten Spaß dabei haben, ist nebensächlich. Sie dürfen, aber sie müssen nicht. Hauptsache man pflanzt sich fort.

So war das nicht nur beim jüdischen Volk vor ein paar tausend Jahren. So ist das in vielen Ge­sellschaften durch die gesamte Geschichte der Menschheit bis heute. Solange es ums Überle­ben geht, wird die Moral von diesem Überlebenskampf bestimmt.

Erst wenn sich die Umstände so ändern, dass die Gesellschaft nicht in ihrer Existenz bedroht ist, ändert sich auch die Moral. Dazu sind drei Voraussetzungen nötig: Es darf keine Bedro­hung materieller Art geben (d.h. ausreichende Versorgung ist sichergestellt); es darf keine Be­drohung durch andere Gesellschaften geben; dieser Zustand muss über lange Zeit anhalten.

Erst wenn diese Voraussetzungen gegeben sind, kann es sich eine Gesellschaft leisten, ande­res als das Überleben dieser Gesellschaft in den Mittelpunkt zu stellen. In den meisten Fällen bedeutet das: „Gut“ und „böse“ wird immer weniger das, was dem Ganzen dient. „Gut“ und „böse“ wird zunehmend vom Nutzen für den einzelnen her definiert.

So konnte die Vorstellung von der „Menschenwürde“ erst entstehen, als die Völker in Mittel­europa so reich und technisch überlegen geworden waren, dass sie nicht mehr von der Auslö­schung durch Hunger oder Kriegszüge anderer Völker bedroht waren. Das alles gab es zwar noch, aber es war nicht mehr existenzbedrohend. Und erst zu diesem Zeitpunkt konnte man es sich erlauben, die Moral an den Bedürfnissen der einzelnen Menschen auszurichten.

Je sicherer die Umstände wurden, umso mehr trat der Einzelne in den Vordergrund. Sobald die Umstände jedoch wieder existenzbedrohend wurden, orientierte sich die Moral aber wie­der an den Bedürfnissen des Ganzen. „Das Volk“, „der Staat“ wurde dann wichtig.

Die Gesellschaft in Deutschland in der heutigen Zeit ist seit längerem von keiner realen Ge­fahr in ihrer Existenz bedroht. Deshalb hat sich immer stärker eine Moral für den Einzelnen entwickelt. Das zeigt sich in den Gesetzen. Das zeigt sich im Umgang untereinander, im Fernsehprogramm und in den anderen Medien, in der Stadtplanung und -gestaltung, in der Art wie Beziehungen gestaltet werden, in der Erziehung der Kinder, im Sexualverhalten und in al­len anderen Lebensgebieten.

Das alles hat Auswirkungen. Man kann diese Auswirkungen positiv beurteilen oder negativ. Man kann versuchen, sie zu beseitigen oder sie zu verstärken. Aber eins wird man nicht errei­chen: Die Tatsache zu ändern, dass Moral von den Umständen geformt wird.

Ich schreibe bewusst „geformt“ und nicht „bestimmt“. Denn kein Mensch ist den Umständen willenlos ausgeliefert. Die Lebensumstände formen und prägen einen Menschen, aber jeder Mensch ist auch in der Lage, seinerseits seine Lebensumstände zu formen. Zumindest in ei­nem gewissen Rahmen. Und damit wird auch die Moral eines Menschen nicht nur von den Umständen geformt, sondern jeder Mensch kann in einem gewissen Rahmen seine Moral un­abhängig von den Umständen entwickeln.

Der gewisse Rahmen allerdings bleibt. Ein armer Mensch etwa hat ganz von selbst eine ande­re Moral als ein reicher Mensch. Er kann versuchen, bewusst diese Moral zu ändern, und da­bei auch erfolgreich sein. Aber solange die Umstände so bleiben wie sie sind, werden in sei­nem armen Leben andere Fragen und Themen vorherrschen als im Leben eines reichen Men­schen. Unterschiedliche Lebensthemen bewirken aber unterschiedliche Sichtweisen, die wie­derum Einfluss auf die Moral haben. Für einen armen Menschen hat zum Beispiel materielle Sicherheit einen anderen moralischen Wert als für einen reichen Menschen.

Was für den einzelnen Menschen gilt, gilt auch für ganze Gesellschaften. Auch deren Moral wird von den Umständen geformt. Hören Sie mal alten deutschen Menschen zu, wie sehr de­ren Moral von dem Umstand beeinflusst wird, dass sie einen totalen Krieg und eine totale Niederlage erlebt haben. Allein diese Erfahrung hat in den letzten Jahrzehnten in Deutschland zu anderen moralischen Werten geführt als in seinen Nachbarstaaten, etwa beim Verhältnis zu Gewalt sowohl auf staatlicher als auch auf privater Ebene.

Oder die Erfindung eines Medikaments zur Empfängnisverhütung. Damit wurde Sex von der Möglichkeit der Fortpflanzung abgekoppelt, was die Sexualmoral ganz entscheidend verän­dert hat. Erstmals in der Geschichte der Menschheit konnte man Sex nur zum Spaß haben, er diente nicht mehr zwangsläufig ausschließlich zum Erhalt des Volkes/der Sippe/der Familie. Somit bestand keine Notwendigkeit mehr, Sex nur in einem Rahmen auszuüben, in dem die dadurch entstehenden Kinder geschützt aufwachsen konnten. Sex war nun auch vor der Ehe „gut“, da nicht schädlich fürs Ganze.

Doch nicht nur die Sexualmoral änderte sich mit der Verbreitung der „Pille“. Auch die Bezie­hungsmoral wurde wesentlich davon beeinflusst, in Verbindung mit der Abwendung der Mo­ral vom Ganzen hin zum Einzelnen. Feste, dauerhafte Beziehungen wurden für den Fortbe­stand der Gemeinschaft immer unwichtiger – und der Fortbestand der Gemeinschaft an sich geriet schon immer mehr aus dem Blickfeld. Der Kern von Beziehungen ist nun nicht mehr Stabilität und Sicherheit (zum Zwecke des Fortbestands der Gemeinschaft), sondern Selbst­verwirklichung und Wunscherfüllung. Beziehungen sind nur solange „gut“, solange sie mei­ner Befriedigung meiner Wünsche dienen. Kann eine Beziehung das nicht mehr leisten, ist es „richtig“, sie zu beenden.

Moral ändert sich, wenn sich die Umstände ändern. Und Moral muss, um ihren Zweck zu er­füllen, als etwas Festes gesehen werden. Das ist ein Widerspruch, der immer wieder zu Kon­flikten führt – immer dann, wenn sich die Umstände so stark ändern, dass sie die Moral beein­flussen. Da gibt es dann die, die die alte Moral bewahren wollen. Die die veränderten Um­stände ignorieren und eine Anpassung der Moral als „böse“ bewerten. Auf der anderen Seite sind die, die sich von den geänderten Umständen nicht nur formen lassen, sondern ganz und gar bestimmen lassen. Die alles für „gut“ befinden, was anders ist als das Bisherige. Und zwi­schen den beiden Extremstandpunkten gibt es tausende unterschiedlicher Abstufungen bis hin zu „Ist mir doch alles völlig egal“.

Am Ende führt dieser Konflikt zu einer neuen, angepassten Moral. Oft dauert diese konflikt­reiche Periode mehrere Generationen an. Manchmal, wenn es zu großen Umwälzungen kommt, betrifft dieser Konflikt die gesamte Moral einer Gemeinschaft. Wenn sich nur ein Be­reich der Umstände ändert, ändert sich auch nur der betreffende Bereich der Moral. Dieser kann allerdings wieder Auswirkungen auf andere Bereiche haben.