Wir werden wieder zu Menschen

Zwei Begriffe haben derzeit Hochkonjunktur: Verantwortung und Freiheit. Erstaunt stellen viele Menschen fest, dass eins mit dem anderen zusammenhängt. Wo doch bis vor zwei Wochen das Credo war: Meine Freiheit ist unbegrenzt. Also MEINE Freiheit. MEINE Freiheit ist jedes Opfer wert – solange andere das Opfer bringen.

Und plötzlich macht sich die Erkenntnis breit, dass MEIN Handeln ja auch Auswirkungen auf andere hat und ICH somit Verantwortung für andere trage, ob ich will oder nicht. Und dass von daher es schon immer Konsens war, dass MEINE Freiheit da endet, wo sie in die Freiheit eines anderen Menschen eingreift.

Ich schreibe hier bewusst „war“, denn dieser Konsens ging immer mehr verloren. Die Freiheit des einzelnen ohne jede Einschränkung wurde immer stärker zum einzigen Maßstab. Was in der Praxis heißt, dass die Starken, Durchsetzungsfähigen ihre Freiheit auf Kosten der Schwachen ausleben.

Und nun übernehmen fast alle Menschen Verantwortung, indem sie sich massiv einschränken und zum Teil große Opfer bringen, um die Schwachen zu schützen. „Schwach“ sind in diesem Fall diejenigen, denen das Virus die schwersten Schäden zufügen kann.

Es ist einerseits schade, dass es eine Seuche braucht, um die Menschen wieder zum Menschsein zurückzubringen. Andrerseits ist es schön zu sehen, dass in den meisten Menschen doch noch soviel Menschlichkeit steckt, trotz jahrzehntelanger Propaganda menschenfeindlicher egoistischer Ideologien.

Hoffen wir, dass diese neue alte Menschlichkeit die Seuche überlebt.

Alles hat seinen Preis

Früher war alles besser.

Nö. Stimmt nicht. Früher war alles anders. Oder zumindest war ziemlich viel anders. Früher war mehr Lametta, zum Beispiel. Was früher auch anders war: Der einzelne zählte nicht viel. Entscheidend war das Gesamte. Das Volk, die Nation, die Kirche, die Familie … Das hatte positive Effekte. Einen starken Zusammenhalt, zum Beispiel. Oder Sicherheit. Das hatte auch negative Effekte. Einen enormen sozialen Druck, zum Beispiel. Oder Ausgrenzung von Menschen, die sich diesem Druck nicht fügen wollten oder konnten.

Aus diesen Auswirkungen heraus entstand eine Gegenbewegung, die den Wert des einzelnen Menschen in den Mittelpunkt stellte. Die Menschenwürde wurde immer wichtiger. Eine Zeit lang befanden sich die beiden Pole Gemeinwohl und Wohl des Einzelnen im Gleichgewicht. Doch dann lief es so wie es immer läuft: Wenn ein Ziel erreicht ist, wird trotzdem weitergemacht. Die Menschen wissen nicht wann sie aufhören müssen. Und so kippte das Gleichgewicht immer mehr in Richtung Wohl des Einzelnen. Heute haben wir in unserer Kultur eine extrem einseitige Betonung des Ich, das Wir ist fast bedeutungslos geworden.

Dieser Zustand hat viele Namen. Neoliberalismus. Ungezügelter Kapitalismus. Oder schlicht und einfach: Egoismus.

Die Auswirkungen: Nichts hat mehr einen Wert. Alles hat einen Preis. Und zwar den Preis, den ICH bereit bin zu zahlen oder den ich von anderen fordere. MEIN Wille ist die einzige Grundlage für alles. Das gilt nicht mehr nur für Dinge, für Waren. Das gilt auch für Menschen. – Was MEIN Lebenspartner mir bringt, entspricht nicht mehr dem was ICH investiere: Der Partner wird retourniert. ICH will ein Kind: Dann habe ICH auch ein Recht darauf, und die Allgemeinheit muss alles tun und jeden Preis dafür zahlen, dass ICH ein Kind bekomme. ICH will kein Kind: Dann habe ICH ein Recht darauf es zu töten. Und MEIN Kind hat die Pflicht so zu werden wie ICH es mir erträume. Und alle ErzieherInnen und LehrerInnen müssen jeden Preis dafür zahlen, dass MEIN Kind MEINEN Vorstellungen gemäß heranwächst.

Die Menschenwürde hat schon lang ausgedient. Also sie gilt selbstverständlich weiterhin für MICH. Aber die Würde aller anderen ist abhängig von ihrem Wert. Und zwar von ihrem Wert für MICH. Wer diesen Wert nicht aufbringt, der darf ruhig im Mittelmeer ertrinken. Der darf ohne schlechtes Gewissen vor der Geburt getötet werden. Der darf seine überschwemmte Heimat verlieren, damit ICH weiterhin in den Urlaub fliegen kann und mich auch sonst nicht einschränken muss. Schließlich wiegt MEIN Selbstbestimmungsrecht mehr als alles andere. Als alle anderen.

ICH. ICH. ICH. Das ist der Gott, den immer mehr anbeten. Der Gott, der nicht angezweifelt werden darf. Und wer einen anderen Gott verkündet, der wird gesteinigt. Die Felsbrocken, die auf ihn geworfen werden heißen „Fundamentalismus“, „Rechts“, „Frauenfeindlichkeit“, „Einschränkung der Freiheit“.

MEIN Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden. Denn MEIN ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit. Bis zum bitteren Ende. Amen.