Alles hat seinen Preis

Früher war alles besser.

Nö. Stimmt nicht. Früher war alles anders. Oder zumindest war ziemlich viel anders. Früher war mehr Lametta, zum Beispiel. Was früher auch anders war: Der einzelne zählte nicht viel. Entscheidend war das Gesamte. Das Volk, die Nation, die Kirche, die Familie … Das hatte positive Effekte. Einen starken Zusammenhalt, zum Beispiel. Oder Sicherheit. Das hatte auch negative Effekte. Einen enormen sozialen Druck, zum Beispiel. Oder Ausgrenzung von Menschen, die sich diesem Druck nicht fügen wollten oder konnten.

Aus diesen Auswirkungen heraus entstand eine Gegenbewegung, die den Wert des einzelnen Menschen in den Mittelpunkt stellte. Die Menschenwürde wurde immer wichtiger. Eine Zeit lang befanden sich die beiden Pole Gemeinwohl und Wohl des Einzelnen im Gleichgewicht. Doch dann lief es so wie es immer läuft: Wenn ein Ziel erreicht ist, wird trotzdem weitergemacht. Die Menschen wissen nicht wann sie aufhören müssen. Und so kippte das Gleichgewicht immer mehr in Richtung Wohl des Einzelnen. Heute haben wir in unserer Kultur eine extrem einseitige Betonung des Ich, das Wir ist fast bedeutungslos geworden.

Dieser Zustand hat viele Namen. Neoliberalismus. Ungezügelter Kapitalismus. Oder schlicht und einfach: Egoismus.

Die Auswirkungen: Nichts hat mehr einen Wert. Alles hat einen Preis. Und zwar den Preis, den ICH bereit bin zu zahlen oder den ich von anderen fordere. MEIN Wille ist die einzige Grundlage für alles. Das gilt nicht mehr nur für Dinge, für Waren. Das gilt auch für Menschen. – Was MEIN Lebenspartner mir bringt, entspricht nicht mehr dem was ICH investiere: Der Partner wird retourniert. ICH will ein Kind: Dann habe ICH auch ein Recht darauf, und die Allgemeinheit muss alles tun und jeden Preis dafür zahlen, dass ICH ein Kind bekomme. ICH will kein Kind: Dann habe ICH ein Recht darauf es zu töten. Und MEIN Kind hat die Pflicht so zu werden wie ICH es mir erträume. Und alle ErzieherInnen und LehrerInnen müssen jeden Preis dafür zahlen, dass MEIN Kind MEINEN Vorstellungen gemäß heranwächst.

Die Menschenwürde hat schon lang ausgedient. Also sie gilt selbstverständlich weiterhin für MICH. Aber die Würde aller anderen ist abhängig von ihrem Wert. Und zwar von ihrem Wert für MICH. Wer diesen Wert nicht aufbringt, der darf ruhig im Mittelmeer ertrinken. Der darf ohne schlechtes Gewissen vor der Geburt getötet werden. Der darf seine überschwemmte Heimat verlieren, damit ICH weiterhin in den Urlaub fliegen kann und mich auch sonst nicht einschränken muss. Schließlich wiegt MEIN Selbstbestimmungsrecht mehr als alles andere. Als alle anderen.

ICH. ICH. ICH. Das ist der Gott, den immer mehr anbeten. Der Gott, der nicht angezweifelt werden darf. Und wer einen anderen Gott verkündet, der wird gesteinigt. Die Felsbrocken, die auf ihn geworfen werden heißen „Fundamentalismus“, „Rechts“, „Frauenfeindlichkeit“, „Einschränkung der Freiheit“.

MEIN Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden. Denn MEIN ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit. Bis zum bitteren Ende. Amen.

 

Von der Würde jedes Menschen

„Die Würde des Menschen ist unantastbar“, lautet die wichtigste Aussage des Grundgesetzes. Unser ganzes Rechtssystem und unsere Gesellschaft gründen darauf. Heißt es zumindest. Bis jetzt.

„Menschenwürde“ – das klingt sehr abstrakt. Was bedeutet dieser Begriff? Und welche Be­deutung hat er für unser praktisches Leben?

„Würde“. Ein altes Wort. Fast schon ein veraltetes Wort. Heute zählt eher der Wert. Was aber etwas ganz anderes ist. Wie heißt es in einer Werbung: „Das und das: Soundsoviel Euro. Alles andere: unbezahlbar.“ Genau das macht etwas würdevoll: Dass es nicht in Euro zu beziffern ist, weil es etwas ganz Besonderes, Einmaliges ist, für das es keinen Gegenwert gibt.

Eben das macht die Würde eines jeden Menschen aus: Jeder Mensch ist etwas Besonderes. Denn jeder Mensch ist einmalig. Es hat ihn noch nie zuvor gegeben und es wird ihn nie mehr danach geben. Das Leben eines jeden Menschen ist einzigartig.

Darauf beruht die Würde eines jeden Menschen. Auf seiner Einmaligkeit. Auf seiner Einzig­artigkeit. Jeder Mensch hat die volle Würde, einfach weil er da ist. Deshalb hat er keinen Wert, sondern Würde.

Die Würde des Menschen hat also nichts mit irgendeinem Wert zu tun. Sie kommt nicht von bestimmten Eigenschaften des Menschen, sie ist unabhängig von Leistung und vom Wert für andere oder „die Gesellschaft“. Jeder ein­zelne Mensch ist würdevoll, weil jeder einzelne Mensch einmalig ist. Und deshalb ist diese Würde unantastbar.

Genau dies – die Würde des Menschen anzutasten – wird aber seit allen Zeiten versucht. Und nicht nur versucht, sondern durchgeführt.

Es beginnt immer damit, dass die Menschenwürde eingegrenzt wird. Als richtiger, voll-werti­ger Mensch wird man dann nur noch angesehen, wenn man über bestimmte Eigenschaften verfügt oder zu bestimmten Leistungen in der Lage ist oder einen bestimmten Wert für andere hat. Die Würde wird durch den Wert ersetzt.

Das führt dann dazu, dass Gruppen von Menschen, die diese Kriterien nicht erfüllen, als min­der-wertig angesehen werden, eben als nicht mehr „würdevoll“. Man spricht ihnen das volle Menschsein ab oder erklärt sie gleich zu Nicht-Menschen. Mit der Folge, dass sie außerhalb der menschlichen Gemeinschaft gestellt werden und man mit ihnen alles tun darf. Auch, und vor allem: töten.

So wurde in unserem Land schon einmal die Menschenwürde von bestimmten (fiktiven) ver­erbten Eigenschaften abhängig gemacht. Die deutsche Menschheit wurde aufgeteilt in voll­wertige Menschen, genannt Arier und minderwertige Menschen, genannt Juden. Und in der Folge wurden Millionen einzigartiger Leben einmaliger Menschen vernichtet.

So wird in vielen Ländern die Menschenwürde von Leistung abhängig gemacht, nämlich von erwünschtem sozialen Verhalten. Wer dem nicht entspricht und kriminell wird, dem wird die Menschenwürde aberkannt und der darf dann hingerichtet werden. Das einzigartige Leben ei­nes einmaligen Menschen darf ausgelöscht werden.

So wird nicht nur in unserem Land eine bestimmte Bevölkerungsgruppe zu Nicht-Menschen deklariert und als „Zellgewebe“ oder „Fötus“ oder „werdendes“ Leben bezeichnet. Was den „richtigen“ Menschen das Recht gibt, diese angeblichen Nicht-Menschen zu Millionen zu tö­ten. Zwar verbotenerweise, aber straffrei.

Doch es gilt: Der Mensch ist Mensch von Anfang an. Vom Moment der Zeugung an hat jeder Mensch die volle Menschenwürde. Und die behält er bis zum Ende seines Lebens. Unabhän­gig von seinen Eigenschaften, seiner Leistungsfähigkeit, seiner Nützlichkeit. Egal ob dieser Mensch gerade erst aus zwei Zellen besteht, ob er dement ist, im Koma liegt, ein gewissenlo­ser Vergewaltiger ist oder einfach nur woanders herkommt.

Jeder Mensch ist etwas ganz Besonderes, weil es ihn noch nie gegeben hat und ihn nie mehr geben wird. Das Leben, das er lebt, wird nie mehr gelebt werden. Das gibt jedem Menschen seine Würde.

Und das gibt jedem Menschen die Pflicht, mit jedem anderen Menschen entsprechend würde­voll umzugehen. Das heißt zunächst einmal, ihn leben zu lassen. Das heißt dann aber auch, ihm mit dem Respekt und der Achtung zu begegnen, die diesem würdevollen Menschen ge­bühren. Was wiederum bedeutet: Ich achte die Würde eines Menschen, indem ich dazu beitra­ge, dass sein Leben gelingen kann. Dieses einzige Leben, das er hat.

Glaube und Überzeugungen spielen dabei keine Rolle. Weder auf der einen Seite noch auf der anderen. Ich muss nicht an einen Gott glauben, um einem anderen Menschen Respekt und Achtung entgegenzubringen. Es reicht zu wissen, dass der andere genauso einmalig ist wie ich. Die Würde des Menschen nicht anzutasten ist eine alltägliche Aufgabe für Christen, Mos­lems, Atheisten und Angehörige jeder anderen Religion.