Die Gretchenfrage

In Goethes Faust stellt Gretchen dem Titelhelden einmal die Gretchenfrage. Frage für Klugscheißer: Wie lautet diese Frage? Antwort: „Sag, Heinrich, wie hältst du’s mit der Religion?“

Der moderne Heinrich verdreht bei dieser Frage die Augen. Die Henriette auch. Religion ist ja so was von out. „Die Religion“ ist ja auch schuld an allen Übeln dieser Welt. Und überhaupt! Heinrich und Henriette brauchen keine Religion. Sie sind sich selbst gut genug.

Kann man so sehen. Wenn man etwas Entscheidendes übersieht: „Ich bin nicht religiös“ ist auch schon eine religiöse Aussage. Denn jeder Mensch ist religiös. Weil jeder Mensch etwas glaubt. Jeder Mensch hat gewisse Grundannahmen, woher er (und der Rest der Menschheit) kommt, wohin er geht und was das dazwischen alles soll. Manche Menschen haben irgendeinen Gott als Grundannahme, manche Menschen glauben an das Nichts, die meisten Menschen glauben an Wurscht („Das is‘ mir doch alles wurscht!“). Aber jeder Mensch glaubt irgendwas.

„Ich glaube an nichts“ gibt’s nicht. Was es gibt: „Ich glaube an Nichts“. Kleiner Unterschied in der Grammatik, großer Unterschied im Leben. Denn ohne Glauben kann der Mensch nicht leben. Er braucht Sinn, er braucht Schubladen, in die er alles stecken kann. Im Kleinen, im Alltäglichen wie im Großen. Im Wesentlichen gibt es drei Schubladen: 1) Alles hier wurde von irgendjemandem gemacht, 2) alles hier ist von selbst entstanden, 3) das ist mir doch alles wurscht.

Egal in welcher Schublade jemand steckt: Es hat Auswirkungen auf das praktische Leben. Das ist dann die Religion. Ein Mensch, der an einen Gott glaubt, lebt anders als jemand, der sich völlig auf sich allein gestellt sieht. Das Leben von Gottgläubigen unterscheidet sich stark, je nachdem ob der geglaubte Gott ein liebender Gott ist, oder ein strafender, oder ein gleichgültiger. Und wer an Wurscht glaubt, ist den ganzen Tag damit beschäftigt, vor der Erkenntnis zu fliehen, dass es Wurscht nicht gibt und man sich dieser Frage nach dem Leben, dem Universum und allem nicht entziehen kann. Eine ganze Vergnügungsindustrie lebt von dieser Flucht vor der Gretchenfrage ins Wurscht.

„Religion“ sagen die angeblich Nichtreligiösen und meinen damit „Religion mit Gott“. Sie verkennen dabei, dass es auch Religion ohne Gott gibt. Weil der Mensch eben nicht ohne Sinn und Welterklärung auskommt. Gottfreie Religionen sind zum Beispiel Kommunismus, Nationalsozialismus, die freie Marktwirtschaft, die Wissenschaft, die Selbstoptimierung, der Fortschritt, und – vor allem: das Ich.

Der Heinrich, der an die Selbstoptimierung als Lebenssinn glaubt, geht anders mit Menschen um als Henriette, die an einen liebenden Gott glaubt. Heinrich geht anders mit sich selbst um als Henriette. Heinrich sucht sich einen anderen Beruf als Henriette. Heinrich hat anderen Sex als Henriette. Heinrich hat andere religiöse Rituale als Henriette. Er geht nicht in die Kirche, er geht zu einem Marketing-Guru, der ihm die neueste Selbstoptimierungs-Heilslehre erklärt. Und wenn er nebenher noch wissenschaftsgläubig ist, dann liest er in den Heiligen Schriften von Stephen Hawking oder eines anderen Messias.

Jeder Mensch ist religiös. Und Sie? Wie halten Sie es mit der Religion?

Was glauben Sie eigentlich?

Wer an etwas glaubt und diesen Glauben auch noch in praktisches Leben umsetzt, der ist in unserer hochtoleranten Kultur vielen Angriffen ausgesetzt. Denn feste Überzeugungen zu haben ist natürlich so was von intolerant. Klar. Schließlich ist es menschenunmöglich, selbst von etwas überzeugt zu sein und gleichzeitig andere Ansichten zu respektieren. Das wissen die hypertoleranten Menschen ja aus eigener Erfahrung.

Außerdem ist es so was von Mittelalter, etwas zu glauben. Der moderne aufgeklärte Mensch glaubt nicht, er weiß.

Okay. Schauen wir uns mal an, was wir alles wissen. Sie wissen zum Beispiel, dass die Welt aus Atomen aufgebaut ist. – Wirklich? Haben Sie schon mal ein Atom gesehen oder sonst irgendwie persönlich wahrgenommen? Oder wenigstens selbst experimentell nachgewiesen?

Nein? Sie sind kein Atomphysiker? Dann glauben Sie also an die Existenz von Atomen. Wissen tun Sie nicht davon. Sie glauben den Wissenschaftlern, dass ihre Erkenntnisse richtig sind. Sie glauben Ihren Lehrern oder den Büchern oder Internetseiten, dass diese die Erkenntnisse der Wissenschaftler korrekt wiedergeben. Und Sie glauben sich selbst, dass Sie das alles richtig verstehen.

Nehmen wir ein anderes Beispiel. Eines aus dem praktischen Leben. Sie wissen, dass Ihre Eltern Ihre Eltern sind. Oder nicht? Können Sie sich an Ihre Zeugung erinnern, oder wenigstens an Ihre Geburt? – Sie wissen also nicht aus eigener Anschauung, ob Ihre Eltern tatsächlich Ihre Eltern sind. Sie können es nur glauben. Sie könnten es mittels eines DNA-Tests überprüfen. Aber dazu müssen Sie wieder viel Glauben aufbringen. Sie müssen glauben, a) dass der Test das richtige Ergebnis liefert, b) dass ein DNA-Test überhaupt was über Abstammung aussagt, c) dass es so was wie DNA tatsächlich gibt und d) dass die im Falle ihrer Existenz etwas mit Fortpflanzung zu tun hat. Das alles können Sie nicht selbst überprüfen und daher nicht wissen. Sie können es nur glauben, zumindest solange Sie sich nicht in die Materie einarbeiten und diese selbst erfahren und begreifen.

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Es geht hier nicht darum, alles anzuzweifeln oder „der Wissenschaft“ grundsätzlich zu misstrauen oder gar in irgendwelche Verschwörungstheorien zu verfallen. Es geht hier einzig um eines: Sie wissen sehr wenig und glauben sehr viel. Machen Sie einfach mal einen Praxistest! Schreiben Sie sich auf, was Sie alles wissen. Von den ganz banalen Dingen des Alltags bis zu den Basisfakten des Lebens. Und dann schauen Sie sich jeden Punkt an, ob Sie dieses „Wissen“ tatsächlich aus eigener Anschauung und Erfahrung erworben haben, oder nur durch Vermittlung durch andere. Also: Ob Sie das wirklich selbst wissen, oder ob Sie anderen glauben.

Sie werden feststellen: Die meiste Zeit Ihres Lebens sind Sie damit beschäftigt, etwas zu glauben. Auch wenn Sie zu den rational lebenden Menschen gehören, die deshalb jeden religiösen Glauben ablehnen: Sie glauben. Täglich, stündlich, minütlich. Und weil Sie wie jeder Mensch von Bequemlichkeit und Verdrängung beherrscht sind, glauben Sie am liebsten das, was Ihnen nicht weh tut. So wie jeder Christ und jeder Moslem und jeder Jude auch. Es gibt also für Sie keinen Grund zur Überheblichkeit. Das können Sie dem alten weisen Mann glauben.

Reden ohne zu verstehen

Die meisten Menschen reden von Gott als ob sie eine Ahnung hätten. Das gilt auch für Atheisten. Das ist überhaupt unabhängig von der Religion.

Die Wahrheit ist: Kein Mensch hat eine Ahnung, wenn es um Gott geht. Null. Absolut kein Hauch einer Spur von Ahnung.

Gott übersteigt menschliches Verstehen. Wenn es jemanden gibt, der das alles hier aus nichts erschaffen kann, dann muss er mehr sein als nur ein menschlicher Superstar mit übernatürlichen Fähigkeiten. Dann ist er ganz anders. Nicht größer, nicht gewaltiger, nicht klüger als der Mensch. Anders. Komplett anders.

„Komplett anders“ heißt in der Praxis: Es gibt nichts in dieser Welt, was Gott ähnlich ist. Es gibt nichts in dieser Welt, aus dem wir darauf schließen könnten, wie Gott ist.

Es gibt übrigens auch nichts in dieser Welt, aus dem wir schließen könnten, dass es Gott nicht gibt. Wir können allein aus unserem eigenen Vermögen nichts über Gott oder Nicht-Gott sagen. Rein gar nichts.

Und trotzdem reden Menschen von Gott oder Nicht-Gott, als ob sie eine Ahnung hätten. Weil sie es nicht aushalten, in einem kalten uninteressierten Universum zu leben. Oder von etwas geschaffen worden zu sein, das sie nie verstehen werden. Und dann auch noch vollständig abhängig zu sein davon. Darum machen sie sich einen Gott oder Nicht-Gott, den sie verstehen und den sie dann im besten Fall auch beherrschen können. Das ist der eigentliche Zweck von Gebeten, Opfern, Gelöbnissen: Ich gebe dir, Gott, etwas, und damit habe ich einen Anspruch darauf, dass du nach meinen Vorstellungen funktionierst.

Das ist auch der eigentliche Zweck von Wissenschaft: Ich ringe dem kalten uninteressierten Universum seine Geheimnisse ab, um es dann zu beherrschen, damit es nach meinen Wünschen läuft.

Dummerweise klappt beides nicht. Wissenschaft verbessert zwar im günstigsten Fall das Leben vieler Menschen auf Kosten weniger Menschen und sonstiger Lebewesen. Aber mit jeder gefundenen Antwort tauchen hundert neue Fragen auf. Es wird nie ein Ende geben. Wirklich verstehen und beherrschen werden wir das Universum nie. Wir verstehen und beherrschen ja nicht einmal uns selber.

Und Gott lässt sich sowieso nie verstehen, geschweige denn beherrschen. Deshalb ist jedes Reden über Gott eine Themaverfehlung. Wir haben alle keine Ahnung. Weder von Gott noch von Nicht-Gott. Darum: Entspannt euch alle! Ihr seid alle gleich dumm. Es ist also sinnlos, sich gegenseitig Stress zu machen, weil jeder auf eine andere Weise diese Ahnungslosigkeit verdrängt.

Später dazu mehr.