Lüge!

Wie oft haben Sie heute schon gelogen?

Nie, kein einziges Mal, sagen Sie? – Dann ist das mindestens schon die zweite Lüge an diesem Tag. Wahrscheinlich ist es eher die zweihundertste.

Wir lügen ständig. Wir lügen bewusst andere an. Wir lügen unbewusst uns selbst an. Wir reden uns die Realität schön. Wir reden uns die Realität hässlich. Wir lügen aus Höflichkeit, aus Feigheit, aus Angst, aus Scham. Wir haben eine verzerrte Wahrnehmung von uns selbst. Wir lügen durch Schweigen und durch Augen verschließen. Wir lügen durch absichtliches Vergessen und falsches Erinnern. Wir leben kleine, harmlose Lügen und große, lebensbedrohende Lügen.

Wir lügen ständig.

Hier ist eine kleine Liste der populärsten Lügen:

* Daran habe ich noch nie gedacht.

* Ich kann jederzeit damit aufhören.

* Ich will doch nur dein Bestes.

* Freiheit!

* Das ist kein Mensch, das ist nur ein Embryo.

* Ich liebe dich!

* Das kann ich gut.

* Das kann ich gar nicht, darum brauche ich das erst gar nicht anzufangen.

* Sehr geehrte Damen und Herren!

* Das ist gesund.

* Wie diese Statistik zeigt …

* Das war doch alles ganz harmlos.

* Da bin ich schon lang drüber hinweg.

* Ich glaube an Gott.

* Ich glaube nicht an Gott.

* Natürlich nehme ich dich ernst!

* Ich habe recht.

* Ich denke rein rational.

Wir können ohne Lügen nicht leben. Denn ohne Lügen müssten wir die Realität annehmen wie sie ist.

Die Realität: Das sind zunächst mal Sie selbst. Sie, so wie Sie tatsächlich sind. Ein Wesen mit einem sprunghaften, alles andere als rationalem Denken; mit Gedanken, Gefühlen, Absichten, Vorlieben und Abneigungen, die Sie alle nicht unter Kontrolle haben; mit einem Körper, dessen Grundausstattung Sie sich nicht ausgesucht haben und den Sie nur wenig beeinflussen können; mit einer frühen Prägung durch Ihre Eltern und Ihr Umfeld, von der Sie sich nur mit großen Mühen lösen können; mit Fähigkeiten, auf die Sie nicht stolz zu sein brauchen, weil Sie nichts dafür können; mit Unfähigkeiten, für die Sie sich nicht zu schämen brauchen, weil Sie nichts dafür können.

Die Realität, das sind alle anderen Menschen. Menschen, die genau so sind wie Sie und die gleichzeitig ganz anders sind wie Sie. Menschen, denen man in jedem Fall Unrecht tut, wenn man sie in Schubladen steckt. Menschen, denen Großes gelingt und die krachend scheitern. Menschen, die einfach so sind wie sie sind.

Und die Realität, das ist zuerst und zuletzt der ganze Rest. Also das Universum. Das sind Naturgesetze, auf die Sie keinen Einfluss haben. Das ist ein bewusst-loser Ablauf von Ereignissen, die einfach geschehen, egal was Sie darüber denken und ob das Ihnen passt oder nicht. Die Realität ist ein Universum, dem Sie scheißegal sind. Schon allein deswegen, weil das Universum keine Gefühle hat.

Kurz gesagt: Die Realität ist gefühllos, vorhersehbar, völlig unabhängig von Ihnen und an Ihnen nicht im geringsten interessiert. Das frustriert jeden Menschen, weshalb sich jeder Mensch in seine eigene Welt flüchtet, in der er sich mit kleinen und großen Lügen Bedeutung und Sinn gibt. Anders kann man nicht überleben.

Der alte weise Mann hätte Ihnen jetzt gern was Aufbauendes gesagt. Aber das wäre gelogen gewesen.

Alles anders, immer

Das Leben in der Realität ist das einzig sinnvolle Leben, hat der alte weise Mann im Vorwort geschrieben. Diese Realität ist ein Universum, das nach eindeutigen Regeln von Ursache und Wirkung funktioniert. Daraus folgt eine weitere Eigenart der Realität: Es geschieht immer etwas. Nichts kann sich der Einwirkung durch den Rest des Universums entziehen. Pausenlos wirken Gigantillionen von Vorgängen auf andere Vorgänge ein. Mit anderen Worten: Es gibt im Universum keinen Stillstand. Alles ist Bewegung und Veränderung. Von den riesigen Galaxien bis zu den kleinsten Bestandteilen eines Atoms. Auch Sie selbst verändern sich unaufhörlich. Ihr Körper bildet neue Zellen, alte Zellen sterben ab, Blut fließt, Nervenimpulse strömen, ihr Gehirn arbeitet ununterbrochen. Dasselbe gilt für Sie als Persönlichkeit. Sie verändern sich jeden Tag. Sie machen neue Erfahrungen, Sie vergessen, Sie erinnern sich. Meistens sind das nur unmerkliche Veränderungen, manchmal machen Sie einen großen Sprung.

Die Realität ist also Veränderung. Nie gibt’s Ruhe. Das überfordert viele Menschen. Deshalb flüchten sie aus dieser anstrengenden Realität in ein persönliches Universum, in dem alles festgefügt ist. „Das war schon immer so, das haben wir noch nie gemacht, und da könnte ja jeder kommen.“ Vor allem wenn es jemandem gut geht, ist jede Veränderung angsteinflößend. „Okay“, heißt es dann, „bis jetzt war alles in Entwicklung. Aber nun habe ich ein Endstadium erreicht, das sich nie mehr ändern darf.“ Doch schnell kommt die Realität ums Eck und sagt: „Ne, das jetzt ist auch nur ein Durchgangsstadium.“ Und prompt ist der Mensch beleidigt und macht der Realität / dem Schicksal / Gott bittere Vorwürfe. „Jetzt war ich 56 Jahre lang gesund. Warum ändert sich das jetzt?“ „Wir leben seit Jahrzehnten in Frieden und Sicherheit. Das darf nie mehr anders werden, koste es was es wolle!“ „Wir zwei sind so verliebt ineinander. So bleibt es die nächsten hundert Jahre. Und wenn nicht: Dann ist unsere Beziehung am Ende.“

Das alles ist einer der verbreitetsten Gründe weshalb Menschen leiden. Weil sie in einem Parallel-Universum leben, in dem sich nie etwas ändert.  Und weil der Mensch an sich eine Eigenart hat, die ihm das Leiden erst so richtig ermöglicht: Er sieht nur das was er verliert. Das was er hat ist selbstverständlich. – Dass ich lebe: Äh, klar, warum nicht? Dass ich dieses Leben wieder verliere: Nö, auf keinen Fall! Dass ich dieses Leben ohne körperliche Einschränkungen leben kann: Also bitte, da brauchen doch gar nicht darüber reden! Dass ich diese Gesundheit verliere: Böse Welt! Böser Gott! Dass es unserer Gesellschaft so gut geht wie noch nie: Was weiß ich von „wie noch nie“! Ich kenn es nicht anders. Dass Menschen unseren Wohlstand und Frieden bedrohen, möglicherweise: Skandal! Lasst sie alle absaufen!

Sinnvolles Leben ist Leben in der Realität. In der tatsächlich existierenden Realität. Diese Art zu leben ist auch viel weniger anstrengend. Man bekommt nicht jeden Tag zehnmal eins von der Realität auf die Rübe. Man muss sich viel weniger aufregen und kann sein Leben gelassener angehen, wenn man in dem Bewusstsein lebt, dass eh alles nur vorübergehend ist. Dann genießt man das was man hat auch viel intensiver. Weil man weiß: Man hat nicht ewig Zeit dafür. Und das Verlieren fällt leichter, wenn man weiß: Ich verliere ohnehin. Jeden Tag ein bisschen und am Ende alles. Egal ob ich dagegen ankämpfe, davor davonlaufe oder es akzeptiere. Nur: Akzeptieren kostet am wenigsten Kraft, beim selben Ergebnis. Also …