Endlich – der Verstand

Der alte weise Mann war mal ein junger nicht ganz so weiser Mann.  Irgendwann kurz nach dem Ende der letzten Eiszeit. Damals hatte er einen Grundsatz: Es zählt nur der Verstand. Alles andere ist minderwertig. Also Gefühle, Intuition und so Zeug.

Nach ein paar Jahrzehnten Gebrauch dieses Verstandes brachte eben dieser Verstand den alten weisen Mann zu der Einsicht: Der Verstand hat Grenzen. Nicht nur bei ihm, sondern bei allen Menschen. Der Verstand hat sogar zwei Grenzen: Eine nach außen und eine nach innen.

Jeder Mensch kommt irgendwann an einen Punkt, an der sein Verstand an eine Mauer fährt und anschließend benommen liegen bleibt oder in eine falsche Richtung abbiegt. Manche Menschen erreichen diese Grenze früher und öfter, andere später und seltener. Aber selbst das größte Genie hat keinen unendlichen Verstand.

Dies ist die äußere Grenze des Verstandes. Die innere Grenze liegt im Menschen selbst. Denn das Gehirn des Menschen ist kein Computer. Es funktioniert nicht logisch, es funktioniert assoziativ. Beim menschlichen Gehirn geht Schnelligkeit vor Genauigkeit. Deshalb versucht der Mensch immer, Verbindungen zu schaffen zwischen Erfahrungen, Dingen, Informationen. Ob das dann passt, ist zweitrangig. Hauptsache man hat erst mal eine Schublade gefunden, in die man es reinstecken kann. Logisch denken kann man dann ja später noch. – Tut man dann bloß selten. Weil man ja mit Schubladenbefüllen voll ausgelastet ist.

Dazu kommt noch, dass sich das Gehirn nur das merken kann, was irgendwie mit irgendeinem Gefühl verbunden ist. Was einem wurscht ist, das merkt man sich nicht. Deshalb gibt es kein Denken mit dem Verstand, das nicht frei von Gefühlen ist. Zu dem allem gesellt sich dann noch die fast unendliche Fähigkeit des Menschen zur Verdrängung. Wenn er etwas nicht sehen will, dann sieht er es nicht. Egal wie intelligent er ist. Egal wie deutlich ihm das vor Augen steht, was er nicht sehen will.

Der menschliche Verstand ist also begrenzt. Aber innerhalb dieser Grenzen haben die meisten Menschen einen größeren Bewegungsraum als sie ihn je nutzen. Weil dieser Raum vollgemüllt ist mit Schubladen, unsinnigen Verbindungen, und verdrängten Realitäten. Haben Sie nicht Lust, da mal aufzuräumen? So ein frei beweglicher Verstand (in all seinen Grenzen) ist was Schönes! Schöner jedenfalls als in so einer Müllhalde zu leben.

 

Denk! Nicht! Dran!

Es gibt vieles, was den Menschen vom Tier unterscheidet. Zuallererst mal die Sprache. Nur der Mensch hat die Fähigkeit, Luft gezielt in Bewegung zu versetzen und die dabei entstehenden Schallwellen mit einer enormen Vielzahl von Informationen zu versehen, die beim menschlichen Empfänger wiederum in Gedanken, Gefühle und Handlungen umgewandelt werden. Es gäbe kein Reflektieren und damit keine Kultur, keine Wissenschaft, keine großen Gemeinschaften, keine Kriege ohne Sprache.

Noch faszinierender als die Sprache ist allerdings eine andere typisch menschliche Fähigkeit: Die Verdrängung.

Verdrängung ist mehr als nur Vergessen. Verdrängung ist Vergessen plus Vergessen, dass man vergisst plus Vergessen des Speicherplatzes des Verdrängten plus Vergessen, dass dieser Speicherplatz überhaupt existiert. Plus – natürlich – den ganzen Vorgang des Vergessens schon mal gar nicht zu bemerken.

Jeder Mensch verdrängt etwas. Erlebnisse und Erfahrungen, die schmerzhaft oder beschämend sind. Erkenntnisse, die einen selber in Frage stellen würden. Teile der Persönlichkeit, die unangenehm sind.

Das Faszinierende am Verdrängen ist, was das für ein hochkomplexer Vorgang ist. Das beginnt schon damit, dass das alles absichtlich geschieht, aber zu keinem Zeitpunkt bewusst werden darf. Denn der Mensch verdrängt ja nicht aus Spaß an der Übung, sondern weil er irgendetwas äußerst Unangenehmes los werden will. Das aber da ist und nie mehr verschwinden wird. Also muss es irgendwo hin, wo der bewusste Mensch nie hin kommt; und am besten der unbewusste Mensch auch nicht.

Das Ganze funktioniert aber nur, wenn der Mensch selbst nicht bemerkt, dass er das Unangenehme irgendwo weit weg deponiert. Er muss also verdrängen dass er verdrängt. Die Verdrängung des Verdrängens darf er aber auch nicht bemerken, weshalb er auch die Verdrängung des Verdrängens verdrängen muss.

Aber es kommt noch härter. Denn das alles ist ja kein einmaliger Vorgang. Verdrängung funktioniert nur, wenn sie in jeder Sekunde des Lebens reibungslos funktioniert. Das heißt: Der Mensch muss pausenlos die Verdrängung der Verdrängung der Verdrängung verdrängen.

Dazu kommt, dass ihm auch nicht bewusst werden darf, worum es bei seiner Verdrängung geht. Ein Beispiel: Ein Mensch wird sexuell missbraucht. Diese Erfahrung ist für ihn so furchtbar, dass er sich nicht damit auseinandersetzen kann. Er verdrängt sie. Und verdrängt diese Verdrängung. Aber nicht nur das. Wenn er jetzt nur diese spezielle Erfahrung verdrängen würde, dann gäbe es für ihn immer noch viele Hinweise darauf, was er verdrängt. Immer wenn er beim Sex Probleme hat, zum Beispiel. Oder wenn er dem Täter begegnet oder auch nur seinen Namen hört. Oder jemanden trifft, der den gleichen Vornamen hat. Also muss der Mensch, um die Verdrängung aufrecht zu erhalten, auch jede gedankliche Verbindung zu der furchtbaren Erfahrung kappen. Was aber wiederum nur klappt, wenn er andere Begründungen findet, warum er z.B. Probleme beim Sex hat oder diesen einen speziellen Vornamen nicht hören will.

Verdrängung breitet sich also immer weiter aus. Und sie darf keine einzige Sekunde fehlschlagen. Wenn das zu Verdrängende auch nur einen Augenblick ins Bewusstsein kommt, dann ist sie für alle Zeiten vorbei. Das heißt: Irgendwo im Menschen ist eine Instanz, die pausenlos darüber wacht, dass ja kein Weg zum Verdrängten hinführt. Diese Instanz muss aber selbstverständlich so arbeiten, dass der Mensch nicht mal bemerkt, dass sie da ist.

Also: Verdrängung ist höchst komplex, nimmt immer mehr Platz im Leben ein, strengt enorm an und verbraucht viel Energie, die einem woanders fehlt. Es wäre gescheiter, man würde sie lassen. Geht aber nicht, weil man ja nicht bemerkt dass man es tut. Mensch sein ist nicht leicht.