Alles Leid der Welt

Eine grundlegende Frage eines jeden denkenden Menschen ist die Frage nach dem Leid. Warum werden Menschen krank und sterben jung, warum gibt es Naturkatastrophen und Unglücke, warum tun Menschen einander weh? Welchen Sinn hat es, dass Menschen leiden?
Wenn man hier weiterkommen will, muss man erst mal fragen, was „Leid“ überhaupt ist.
Was empfinden Sie als Leid? Was empfinden Menschen allgemein als Leid? – Darauf gibt es sehr viele, sehr unterschiedliche Antworten. Der eine leidet unter einer schweren Erkrankung, während ein anderer sie klaglos hinnimmt. Für einen Menschen bedeutet der Verlust des Arbeitsplatzes eine Katastrophe, ein anderer sieht darin eine Chance auf einen Neubeginn. Manche Menschen können einen materiellen Verlust nicht überwinden, für andere bedeutet das nichts. Viele leiden unter ihrem Alter und der damit verbundenen Gebrechlichkeit. Andere freuen sich an jedem Tag, den sie noch leben können.
Daneben gibt es aber auch Dinge, die wohl allgemein von jedem Menschen als Leid gesehen werden. Krieg und Gewalt zum Beispiel. Oder Missbrauch in jeder Form. Unfreiheit in jeder Form. Der Tod eines geliebten Menschen.
Allen gemein ist, dass eine Leiderfahrung immer mit einem Verlust verbunden ist. Man leidet weil man etwas verliert: Die Gesundheit, den Arbeitsplatz, Besitz, einen Menschen, ein friedliches Leben, Geborgenheit, seine Heimat, die Freiheit, Vertrauen in sich oder in andere, sein eigenes Leben.

Schaut man sich die Ursachen dieser Leiderfahrungen an, so kann man zweierlei erkennen:
Leid entsteht, weil Menschen einander dieses Leid zufügen; und es entsteht, weil die Welt so ist wie sie ist.
Schauen wir uns zunächst einmal das Letztere an. Wie ist denn die Welt?

Die Welt ist in Bewegung. Von den gigantisch riesigen Galaxien bis zu den unvorstellbar kleinen Bestandteilen des Atoms: Alles bewegt sich, pausenlos. Es gibt keinen Stillstand, nirgendwo und niemals im gesamten Universum. Das Universum selbst dehnt sich aus, die Galaxien darin drehen sich, die Planeten drehen sich um die Sonnen und um sich selbst, die Erdkruste, die Erdoberfläche und das Erdinnere sind in ständiger Bewegung, das Klima ändert sich unaufhörlich (auch ohne menschliche Beteiligung), jedes Lebewesen entsteht, wächst und stirbt, jede Zelle in Ihrem Körper altert und wird durch neue Zellen ersetzt, Ihr ganzer Körper ist voller Bewegung – das Blut fließt, Strom strömt, Hormone wandern, Enzyme flitzen umher, Luft kommt rein und raus -, jede Körperzelle ist ununterbrochen aktiv, jedes Atom jeder Zelle besteht aus bewegten Teilchen.

Bewegung heißt aber Veränderung. Und Veränderung heißt Gewinnen und Verlieren. Neues entsteht, Altes vergeht. Der Lauf der Welt ist seit ihrem Anbeginn ein ständiges ununterbrochenes Neuwerden, Wachsen, Vergehen, Sterben, Umwandeln, Neuwerden. Immer und überall, auf allen Ebenen.
Auch auf der Ebene meines ganz persönlichen Lebens. Ich bin irgendwann einmal neu geworden, und zwar dadurch, dass meine Eltern Körperzellen verloren haben. Ein kleiner Teil dieser Zellen hat sich vereinigt und umgewandelt in etwas Neues: Mich. Ich bin gewachsen, aber dieses Wachsen war immer auch mit Verlusten verbunden. Neue Körperzellen haben alte ersetzt. Neue Erfahrungen haben alte Einstellungen verdrängt. In der Pubertät habe ich das Kindsein verloren und das Erwachsensein gewonnen. Mit wachsender Reife habe ich immer mehr Unschuld eingebüßt.
Seit einigen Jahren überwiegt der Verlust den Neugewinn. Dieses Verhältnis wird mit zunehmendem Alter immer weiter auseinanderklaffen. Bis ich schließlich alles in dieser Welt verlieren werde.

Verlust ist also etwas ganz Natürliches. Die Welt funktioniert nicht ohne Verlust. Kein Mensch kann leben ohne zu verlieren. Und zwar ständig.
Verlust ist etwas Natürliches, das zum Leben dazugehört. So natürlich wie Atmen. Warum leiden dann Menschen unter Verlusten, während sie sich nie darüber beklagen, dass sie atmen müssen? (Außer starke Raucher.)
Hier kommt eine menschliche Grundeigenschaft zum Tragen: Der durchschnittliche Mensch sieht nicht das was er hat, er sieht nur das, was er nicht (mehr) hat. Das was man hat, ist selbstverständlich. Was man nicht hat, darauf wird das Denken und Handeln gerichtet. Und etwas zu verlieren was man schon hatte, ist die schlimmste Erfahrung.

Für Lieschen Müller ist es selbstverständlich, dass sie lebt. Genauso selbstverständlich ist es für sie, dass ihr Mann lebt, ihre Kinder, ihre Freundinnen. Sie verschwendet keinen Gedanken daran, dass es anders sein könnte. Dass sie bei der Zeugung überhaupt nicht hätte entstehen können; dass ihre Kinder nicht hätten entstehen können. Dass ihr Mann drei Tage nach seiner Zeugung hätte sterben können und sie ihn nie kennengelernt hätte – und ihn dann nicht einmal vermissen würde.
Lieschen Müller denkt auch nicht daran, dass sie für dieses scheinbar selbstverständliche Leben selbst überhaupt nichts beigetragen hat. Sie lebt einfach, ohne jeden eigenen Verdienst.
Und irgendwann ist diese Selbstverständlichkeit zu Ende. Völlig überraschend tritt ein Ereignis ein, von dem Lieschen Müller wusste, dass es kommt, seit sie zu denken in der Lage war.
Und Lieschen Müller leidet.

Leid entsteht, weil die Welt so ist, wie sie ist, hat der alte weise Mann oben gesagt. Was nicht ganz richtig ist. Genauer gesagt gilt: Leid entsteht, weil die Menschen nicht akzeptieren können, dass die Welt so ist wie sie ist.
Weil die Menschen nicht verlieren können. Sie können nicht verlieren, weil sie das was sie haben als selbstverständlich sehen und den Verlust als unnormal empfinden. Weil sie in diesem Punkt in einer nicht existierenden Welt leben und leiden, wenn sie auf die reale Welt treffen.

Alles in dieser Welt ist nur vorübergehend. Nichts bleibt. Ich kann daran leiden oder ich kann es annehmen und mein Leben daran ausrichten.

Dieses Leiden an der Realität wird noch durch eine weitere Eigenheit des Menschen verstärkt: Die meisten Menschen neigen dazu, alles was bisher war, als Entwicklung zu sehen, die zum jetzigen Zustand geführt hat – und mit diesem Zustand jetzt hört die Entwicklung auf. So wie es jetzt ist, bleibt es endgültig. Bisher war alles Veränderung, okay, aber ab sofort hört sich das auf. Ab jetzt gibt es keine Veränderung mehr, keinen Verlust. Und wenn es dann nicht so bleibt, erzeugt das Leid.
Beispiele gefällig?
* Max Mustermann denkt: So wie unser Land jetzt ist, ist das Folge jahrhundertelanger Entwicklung. Es ging mal hoch und zwischenzeitlich auch ganz tief runter. Aber mit dem jetzigen Zustand ist ein Endpunkt erreicht. Dieses Land wird und darf sich nicht mehr verändern.
Wenn dann doch eine Veränderung kommt in Form von hunderttausenden neu ankommenden Menschen, dann ist das eine Katastrophe. Nicht weil es negative Auswirkungen haben könnte, sondern allein, weil es Veränderungen bringt.
* Max Mustermann denkt: Meine körperliche Leistungsfähigkeit hat sich immer weiter entwickelt. Jetzt, in der Blüte meines Lebens, habe ich den endgültigen, stabilen Zustand erreicht.
Wenn dann der Körper sich dennoch weiter entwickelt, z.B. nach unten durch eine Krankheit, dann leidet Max.
* Max Mustermann hat sich verliebt. Er denkt: Es ist schön, wie unsere Liebe sich entwickelt hat. So wie sie jetzt ist, wird sie immer bleiben. – Das tut die Liebe aber nicht. Nie. Max kann aber die Veränderung nicht annehmen, sondern sieht sie als Verlust und leidet.

Es ist natürlich äußerst unangenehm wenn ich schwer krank werde. Es ist kein Grund zur Freude, wenn ein geliebter Mensch stirbt. Es ist zum Trauern, wenn tausende bei einem Erdbeben sterben. Aber all das sind Ereignisse, die in der Natur der Welt liegen. Ereignisse, die ganz natürlich sind. Von denen jeder Mensch weiß, dass sie passieren können. Ereignisse, auf die man sich deshalb vorbereiten kann, auf die man sich auch geistig einstellen kann. Ereignisse, die dann nicht weniger unerfreulich sind, aber an denen man dann nicht mehr leidet und zerbricht.
Und alles auf dieser Welt ist nur vorübergehend. Alles ändert sich, nichts bleibt. Dies auszublenden führt immer zu Leid-Erfahrungen.
Diese Art von Leid – Leid an der Welt, weil man ignoriert, dass die Welt so ist wie sie ist – entsteht also durch das Denken des Leidenden. Es ist selbstgemacht.
Wie sieht es nun mit der anderen Art von Leid aus, dem Leid, das sich Menschen zufügen? – Dazu später mehr.

Alles anders, immer

Das Leben in der Realität ist das einzig sinnvolle Leben, hat der alte weise Mann im Vorwort geschrieben. Diese Realität ist ein Universum, das nach eindeutigen Regeln von Ursache und Wirkung funktioniert. Daraus folgt eine weitere Eigenart der Realität: Es geschieht immer etwas. Nichts kann sich der Einwirkung durch den Rest des Universums entziehen. Pausenlos wirken Gigantillionen von Vorgängen auf andere Vorgänge ein. Mit anderen Worten: Es gibt im Universum keinen Stillstand. Alles ist Bewegung und Veränderung. Von den riesigen Galaxien bis zu den kleinsten Bestandteilen eines Atoms. Auch Sie selbst verändern sich unaufhörlich. Ihr Körper bildet neue Zellen, alte Zellen sterben ab, Blut fließt, Nervenimpulse strömen, ihr Gehirn arbeitet ununterbrochen. Dasselbe gilt für Sie als Persönlichkeit. Sie verändern sich jeden Tag. Sie machen neue Erfahrungen, Sie vergessen, Sie erinnern sich. Meistens sind das nur unmerkliche Veränderungen, manchmal machen Sie einen großen Sprung.

Die Realität ist also Veränderung. Nie gibt’s Ruhe. Das überfordert viele Menschen. Deshalb flüchten sie aus dieser anstrengenden Realität in ein persönliches Universum, in dem alles festgefügt ist. „Das war schon immer so, das haben wir noch nie gemacht, und da könnte ja jeder kommen.“ Vor allem wenn es jemandem gut geht, ist jede Veränderung angsteinflößend. „Okay“, heißt es dann, „bis jetzt war alles in Entwicklung. Aber nun habe ich ein Endstadium erreicht, das sich nie mehr ändern darf.“ Doch schnell kommt die Realität ums Eck und sagt: „Ne, das jetzt ist auch nur ein Durchgangsstadium.“ Und prompt ist der Mensch beleidigt und macht der Realität / dem Schicksal / Gott bittere Vorwürfe. „Jetzt war ich 56 Jahre lang gesund. Warum ändert sich das jetzt?“ „Wir leben seit Jahrzehnten in Frieden und Sicherheit. Das darf nie mehr anders werden, koste es was es wolle!“ „Wir zwei sind so verliebt ineinander. So bleibt es die nächsten hundert Jahre. Und wenn nicht: Dann ist unsere Beziehung am Ende.“

Das alles ist einer der verbreitetsten Gründe weshalb Menschen leiden. Weil sie in einem Parallel-Universum leben, in dem sich nie etwas ändert.  Und weil der Mensch an sich eine Eigenart hat, die ihm das Leiden erst so richtig ermöglicht: Er sieht nur das was er verliert. Das was er hat ist selbstverständlich. – Dass ich lebe: Äh, klar, warum nicht? Dass ich dieses Leben wieder verliere: Nö, auf keinen Fall! Dass ich dieses Leben ohne körperliche Einschränkungen leben kann: Also bitte, da brauchen doch gar nicht darüber reden! Dass ich diese Gesundheit verliere: Böse Welt! Böser Gott! Dass es unserer Gesellschaft so gut geht wie noch nie: Was weiß ich von „wie noch nie“! Ich kenn es nicht anders. Dass Menschen unseren Wohlstand und Frieden bedrohen, möglicherweise: Skandal! Lasst sie alle absaufen!

Sinnvolles Leben ist Leben in der Realität. In der tatsächlich existierenden Realität. Diese Art zu leben ist auch viel weniger anstrengend. Man bekommt nicht jeden Tag zehnmal eins von der Realität auf die Rübe. Man muss sich viel weniger aufregen und kann sein Leben gelassener angehen, wenn man in dem Bewusstsein lebt, dass eh alles nur vorübergehend ist. Dann genießt man das was man hat auch viel intensiver. Weil man weiß: Man hat nicht ewig Zeit dafür. Und das Verlieren fällt leichter, wenn man weiß: Ich verliere ohnehin. Jeden Tag ein bisschen und am Ende alles. Egal ob ich dagegen ankämpfe, davor davonlaufe oder es akzeptiere. Nur: Akzeptieren kostet am wenigsten Kraft, beim selben Ergebnis. Also …