Im Zweifel

Manche Menschen sind sich immer sicher. Zu hundert Prozent, jederzeit, in allen Lebenslagen. Manche Menschen leben vom Zweifel, leben für den Zweifel. Sie sind sich in allem unsicher. Vermutlich. So ganz gewiss sind sie sich da nicht.

Ist der Zweifel nun gut oder böse? Da gibt es eine unzweifelhafte Antwort darauf. Die lautet: Es kommt darauf an.

Es gibt nämlich einen heilsamen Zweifel und es gibt einen zerstörerischen Zweifel. Der Unterschied liegt in der Motivation, warum man zweifelt. Diese Motivation kommt aus unterschiedlichen Zielvorstellungen, was man mit seinem Zweifel erreichen will. Hier gibt es grundsätzlich zwei Ziele:

a) Ich zweifle, weil ich etwas herausfinden will.

b) Ich zweifle, weil ich verhindern will, dass ich etwas herausfinde.

Praktisches Beispiel: Sie zweifeln, ob Ihr Partner Sie noch liebt. Warum zweifeln Sie daran? a) Weil es objektive Tatsachen gibt, die darauf hindeuten, dass die Liebe Ihres Partners nachgelassen hat. Zum Beispiel die Tatsache, dass er vor zwei Wochen ausgezogen ist. b) Weil Sie seit dem ersten Tag Ihrer Beziehung daran zweifeln, dass überhaupt irgendjemand sie liebt.

Im Fall a) werden Sie herausfinden wollen, ob Ihre Beziehung noch eine Chance hat. Sie werden versuchen, etwas das möglicherweise zerstört ist, wieder zu heilen. Im Fall b) werden Sie alles verhindern wollen, das Sie einer unangenehmen Einsicht näher bringt. Zum Beispiel die Erkenntnis, dass Ihr Partner Sie tatsächlich liebt. Das würde ja Ihr Selbstbild zerstören. Da zerstören Sie dann lieber eine heile Beziehung.

Der heilsame Zweifel ist also konstruktiv. Er baut auf, er heilt, er führt aus ungesunden Situationen heraus. Der zerstörerische Zweifel ist destruktiv. Er macht kaputt was heil ist, er führt in ungesunde Situationen und hält einen dann darin gefangen.

Zweifeln Sie, liebe LeserIn, aber zweifeln Sie richtig! Und an seinen Zweifeln zu zweifeln ist auch nie verkehrt. Zweifellos.

Alles hat seinen Preis

Früher war alles besser.

Nö. Stimmt nicht. Früher war alles anders. Oder zumindest war ziemlich viel anders. Früher war mehr Lametta, zum Beispiel. Was früher auch anders war: Der einzelne zählte nicht viel. Entscheidend war das Gesamte. Das Volk, die Nation, die Kirche, die Familie … Das hatte positive Effekte. Einen starken Zusammenhalt, zum Beispiel. Oder Sicherheit. Das hatte auch negative Effekte. Einen enormen sozialen Druck, zum Beispiel. Oder Ausgrenzung von Menschen, die sich diesem Druck nicht fügen wollten oder konnten.

Aus diesen Auswirkungen heraus entstand eine Gegenbewegung, die den Wert des einzelnen Menschen in den Mittelpunkt stellte. Die Menschenwürde wurde immer wichtiger. Eine Zeit lang befanden sich die beiden Pole Gemeinwohl und Wohl des Einzelnen im Gleichgewicht. Doch dann lief es so wie es immer läuft: Wenn ein Ziel erreicht ist, wird trotzdem weitergemacht. Die Menschen wissen nicht wann sie aufhören müssen. Und so kippte das Gleichgewicht immer mehr in Richtung Wohl des Einzelnen. Heute haben wir in unserer Kultur eine extrem einseitige Betonung des Ich, das Wir ist fast bedeutungslos geworden.

Dieser Zustand hat viele Namen. Neoliberalismus. Ungezügelter Kapitalismus. Oder schlicht und einfach: Egoismus.

Die Auswirkungen: Nichts hat mehr einen Wert. Alles hat einen Preis. Und zwar den Preis, den ICH bereit bin zu zahlen oder den ich von anderen fordere. MEIN Wille ist die einzige Grundlage für alles. Das gilt nicht mehr nur für Dinge, für Waren. Das gilt auch für Menschen. – Was MEIN Lebenspartner mir bringt, entspricht nicht mehr dem was ICH investiere: Der Partner wird retourniert. ICH will ein Kind: Dann habe ICH auch ein Recht darauf, und die Allgemeinheit muss alles tun und jeden Preis dafür zahlen, dass ICH ein Kind bekomme. ICH will kein Kind: Dann habe ICH ein Recht darauf es zu töten. Und MEIN Kind hat die Pflicht so zu werden wie ICH es mir erträume. Und alle ErzieherInnen und LehrerInnen müssen jeden Preis dafür zahlen, dass MEIN Kind MEINEN Vorstellungen gemäß heranwächst.

Die Menschenwürde hat schon lang ausgedient. Also sie gilt selbstverständlich weiterhin für MICH. Aber die Würde aller anderen ist abhängig von ihrem Wert. Und zwar von ihrem Wert für MICH. Wer diesen Wert nicht aufbringt, der darf ruhig im Mittelmeer ertrinken. Der darf ohne schlechtes Gewissen vor der Geburt getötet werden. Der darf seine überschwemmte Heimat verlieren, damit ICH weiterhin in den Urlaub fliegen kann und mich auch sonst nicht einschränken muss. Schließlich wiegt MEIN Selbstbestimmungsrecht mehr als alles andere. Als alle anderen.

ICH. ICH. ICH. Das ist der Gott, den immer mehr anbeten. Der Gott, der nicht angezweifelt werden darf. Und wer einen anderen Gott verkündet, der wird gesteinigt. Die Felsbrocken, die auf ihn geworfen werden heißen „Fundamentalismus“, „Rechts“, „Frauenfeindlichkeit“, „Einschränkung der Freiheit“.

MEIN Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden. Denn MEIN ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit. Bis zum bitteren Ende. Amen.

 

Ein Sinn-loser Text

Unser Leben ist Sinn-los. Nicht sinnlos, aber Sinn-los. Denn unabhängig davon, ob am Anfang des Lebens, des Universums und allem Gott steht oder Nichts: Dort am Anfang endet auf jeden Fall die Frage nach dem Sinn. Am Anfang ist einfach etwas – eben Gott oder Nichts. Egal was es ist: Es hat keinen Ursprung, keinen Grund und damit keinen Sinn.

Der alte weise Mann glaubt – weiß -, dass am Anfang Gott steht. Der Gott, den Jesus verkündet hat. Dieser Gott ist Sinn-los. Denn dieser Gott ist. Er ist noch bevor es die Zeit gab. Bei ihm gibt es kein Davor, kein Jetzt und kein Danach. Bei ihm gibt es deshalb auch keine Ursache und keine Wirkung. Und deshalb muss er auch nichts tun. Es gibt nichts, was seinen freien Willen ein­schränkt und deshalb in irgendeine Richtung lenken würde. Es gibt keinen Grund, weshalb er ist und weshalb er so ist wie er ist. Dieser Gott hat keinen Sinn.

Aber dieser Gott gibt Sinn. Er gibt unserem Leben Sinn.

Dieser Sinn kommt von der erstaunlichsten Tatsache in diesem Universum: Die Tatsache, dass es dieses Universum überhaupt gibt. Es wäre wesentlich einfacher, naheliegender und natürlicher, dass es Nichts gibt. Für Nichts braucht es keinen Grund, keine Begründung, keine Regeln. Nichts wäre von jeder Logik her der Normalzustand. Die bloße Existenz dieser Welt macht alles kompliziert. Alle Fragen ergeben sich nur daraus, dass das Universum existiert.

Der alte weise Mann glaubt/weiß, dass Gott dieses Universum geschaffen hat. Dieser Gott, für den es keine Ursache gibt. Der einfach ist. Er musste das alles nicht tun. Es gab keinen Grund dafür. Die Erschaffung der Welt war Sinn-los.

Genau das ist es jedoch, was unserem Leben Sinn gibt. Klingt widersinnig, und ist es auch.

Wir leben weil Gott uns erschaffen hat. Wie gesagt, er musste das nicht tun. Er musste auch nicht genau Sie oder genau Ihren Nachbarn erschaffen. Das Ganze war aber auch keine Willkür. Denn bei Gott gibt es nicht das Gesetz von Ursache und Wirkung. Ursache und Wirkung sind an Zeit gebunden; und bei Gott gibt es keine Zeit. Deshalb muss Gott auch nicht verschiedene Handlungsmöglichkeiten gegeneinander abwägen und dann Entscheidun­gen treffen. Bei ihm ist alles eins. Deshalb muss er nichts tun, deshalb macht er aber auch nicht etwas einfach so. Gott macht. Weil Gott ist. Punkt.

Das ist bei uns Menschen anders. So anders, dass wir wenig bis gar keine Worte dafür haben wie Gott ist und handelt. Wir brauchen Grundlagen für unsere Entscheidungen. Wir können uns nicht von diesem Leben aus Ursache und Wirkung lösen. Genau deshalb verstört es uns ja auch so, wenn etwas „einfach so“ geschieht. Mit Zufällen können wir nicht leben. Das hal­ten wir nicht aus. Wir brauchen Zusammenhänge, wir brauchen Sinn. Aus diesem Grund un­terstellen dann auch Menschen, die an einen Gott glauben, diesem Gott irgendwelche Motive für sein Handeln und Nicht-Handeln. Aber das ist die menschliche Sicht. Gott hat keine Moti­ve, Gott ist aber auch nicht willkürlich. Gott ist.

Und so hat Gott dadurch dass er diese Welt erschaffen hat, ihr den Sinn gegeben. Dadurch hat Gott Ihnen und mir Sinn gegeben. Er hat Sie und den Rest der Menschheit gemacht, und unser Sinn ist es, zu sein. In dem zu sein, der uns den Sinn gibt. In Gott zu sein und Gott in uns sein zu lassen. Nicht nur ein bisschen. Nicht nur in bestimmten Bereichen. Sondern „mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft“, wie es im Glaubensbekenntnis der Juden heißt.

Gott ist. Und deshalb ist unser Sinn, ebenfalls zu sein. In Gott zu sein. Denn Gott hat keinen Sinn. Gott ist der Sinn.

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Und was heißt das jetzt konkret? Was bedeutet „In Gott sein“ für mein Leben? Mehr dazu in diesem Artikel!

Moral

Der Mensch ist in erster Linie bequem. Und er denkt rationell und nicht rational. Eine der Auswirkungen dieser Grundeinstellungen ist es, dass sich Menschen Regeln ge­ben. Menschen sind schlicht zu bequem (positiv formuliert: zu rationell), sich jeden Tag neu überlegen zu müssen, wie sie sich denn heute verhalten sollen. Das wäre ja auch einfach un­praktisch, und man käme zu nichts, weil man sich jeden Tag mit allen Mitmenschen neu ver­ständigen müsste, was heute falsch und richtig ist.

Deshalb werden in jeder Gesellschaft Regeln aufgestellt, was als „gut“ gilt und was als „böse“, was man tun muss, was man tun darf, was man nicht tun darf, aber toleriert wird, was man auf gar keinen Fall tun darf. Diese Regeln gibt es in schriftlicher Form als Gesetze, als ausdrücklich benannte, aber nirgends festgehaltene Verhaltensvorschriften, als unausgespro­chene Übereinkünfte. Die Gesamtheit dieser Regeln ist die Moral.

Nun sehen viele Menschen Moral als etwas das „war schon immer so, das haben wir ja noch nie gemacht und da könnte ja jeder kommen“. Moral als etwas Festes, Unabänderbares. Unse­re Moral in unserer Gesellschaft zu unserer Zeit gilt unverrückbar für alle Zeiten und alle Ge­sellschaften. Wer gegen diese jetzt bei uns geltende Moral verstößt, ist böse. Egal ob dieser Verstoß vor zweitausend Jahren begangen wurde oder in einem anderen Land mit einer völlig anderen Kultur.

Man kann Moral so sehen. Und bis zu einem gewissen Grad muss man das auch. Wenn man sich völlig von der Vorstellung von Moral als etwas Festem und Dauerhaftem löst, löst man sich damit von allen Regeln. Moral heißt dann „Jeder wie er will“. Das führt sehr schnell ers­tens zu dem unbequemen Zustand, dass sich jeder wieder jeden Tag neu seine Moral zurecht­legen und mit allen anderen um ihn herum neu verhandeln muss. Weil das keiner lange durch­hält (zu unbequem), führt das zweitens dazu, dass sich die ganz Bequemen die Moral von den weniger Bequemen aufdrücken lassen. Was drittens ganz schnell zum Recht des Stärkeren führt und dieses viertens unter dem Deckmantel der Toleranz (weil ja jeder darf wie er will) zu einer Moraldiktatur dieser Starken führt.

Moral muss also beständig sein. Dennoch ändert sich Moral pausenlos. Das geht auch gar nicht anders. Denn wie entsteht Moral?

Ein Mensch für sich allein braucht keine Moral. Zunächst einmal. Der berühmte Schiffbrüchi­ge auf einer einsamen Insel tut einfach was zu tun ist, um zu überleben. „Gut“ ist für ihn, was ihm zum Überleben dient, „schlecht“ ist, was ihm in irgendeiner Form schadet. Daraus entste­hen ganz von allein, ohne großes bewusstes Zutun, Regeln. „Dieses Tier töten ist schlecht, weil mir von dem Fleisch übel wird.“ „Einmal am Tag den Horizont absuchen ist gut, weil vielleicht ein Schiff vorbeikommen könnte.“ Und schwupp, hat der Schiffbrüchige eine Moral entwickelt.

Genau so läuft es, wenn mehrere Menschen zusammen sind. Da entstehen von ganz allein Re­geln und Normen. Nur dass es hier etwas komplizierter wird. Je mehr Menschen ihr Zusam­menleben regeln müssen, umso komplexer wird es. Klar.

Denn auch hier gilt als Basis: Gut ist, was dem Überleben dient. Schlecht ist alles andere. Aber es geht jetzt nicht mehr um das Überleben des Einzelnen, sondern um die Familie / die Sippe / das Volk. Da kann es dann durchaus gut sein, das Überleben einzelner Menschen zu gefährden, um den Weiterbestand des Ganzen zu sichern. Etwa durch einen Krieg. Oder die Hinrichtung von Menschen, die gegen die Normen verstoßen.

Es steht auf dieser Stufe der Moralbildung nicht der Einzelne im Mittelpunkt, sondern das Ganze. Das gilt so lange wie das Überleben der Gruppe durchgehend akut gefährdet ist.

Ein schönes Beispiel für diese Ebene der Moral ist das Alte Testament. Dort findet sich ja die gesamte Moral eines bestimmten Volkes, soweit sie schriftlich fixiert wurde. Und hier dreht sich alles um die Sicherung des Fortbestands dieses Volkes. Sexualität, Beziehungen, Famili­enleben, Berufsleben, wirtschaftliches Verhalten, Ernährung, Religion: Bei allem steht im Vordergrund der Nutzen für das Bestehen des Volkes. „Gut“ ist, was der Erhaltung und der Vermehrung dient, „schlecht“ ist alles, was zur Dezimierung führen könnte.

Beispiel Sexual- und Beziehungsmoral: Wichtig und richtig bei der Partnerwahl ist, dass die neu entstehende Beziehung die Sippe (und damit das Volk) stärkt. Deshalb soll nichts Frem­des gewählt werden, deshalb ist die Wirtschaftskraft des Partners wichtig und der soziale Rang. Deshalb ist Sex außerhalb von Beziehungen „böse“, vor allem bei Frauen. Denn dabei kann ein „fremdes“ Kind entstehen, das durchgefüttert werden muss, obwohl es nicht zur Sip­pe gehört. Weshalb es „gut“ ist, in einem solchen Fall die Frau mitsamt Kind zu verstoßen.

Sex dient vor allem zur Fortpflanzung. Deshalb ist Verhütung „böse“, deshalb ist es „gut“, wenn er im Rahmen einer dauerhaften Beziehung regelmäßig stattfindet. Ob die Beteiligten Spaß dabei haben, ist nebensächlich. Sie dürfen, aber sie müssen nicht. Hauptsache man pflanzt sich fort.

So war das nicht nur beim jüdischen Volk vor ein paar tausend Jahren. So ist das in vielen Ge­sellschaften durch die gesamte Geschichte der Menschheit bis heute. Solange es ums Überle­ben geht, wird die Moral von diesem Überlebenskampf bestimmt.

Erst wenn sich die Umstände so ändern, dass die Gesellschaft nicht in ihrer Existenz bedroht ist, ändert sich auch die Moral. Dazu sind drei Voraussetzungen nötig: Es darf keine Bedro­hung materieller Art geben (d.h. ausreichende Versorgung ist sichergestellt); es darf keine Be­drohung durch andere Gesellschaften geben; dieser Zustand muss über lange Zeit anhalten.

Erst wenn diese Voraussetzungen gegeben sind, kann es sich eine Gesellschaft leisten, ande­res als das Überleben dieser Gesellschaft in den Mittelpunkt zu stellen. In den meisten Fällen bedeutet das: „Gut“ und „böse“ wird immer weniger das, was dem Ganzen dient. „Gut“ und „böse“ wird zunehmend vom Nutzen für den einzelnen her definiert.

So konnte die Vorstellung von der „Menschenwürde“ erst entstehen, als die Völker in Mittel­europa so reich und technisch überlegen geworden waren, dass sie nicht mehr von der Auslö­schung durch Hunger oder Kriegszüge anderer Völker bedroht waren. Das alles gab es zwar noch, aber es war nicht mehr existenzbedrohend. Und erst zu diesem Zeitpunkt konnte man es sich erlauben, die Moral an den Bedürfnissen der einzelnen Menschen auszurichten.

Je sicherer die Umstände wurden, umso mehr trat der Einzelne in den Vordergrund. Sobald die Umstände jedoch wieder existenzbedrohend wurden, orientierte sich die Moral aber wie­der an den Bedürfnissen des Ganzen. „Das Volk“, „der Staat“ wurde dann wichtig.

Die Gesellschaft in Deutschland in der heutigen Zeit ist seit längerem von keiner realen Ge­fahr in ihrer Existenz bedroht. Deshalb hat sich immer stärker eine Moral für den Einzelnen entwickelt. Das zeigt sich in den Gesetzen. Das zeigt sich im Umgang untereinander, im Fernsehprogramm und in den anderen Medien, in der Stadtplanung und -gestaltung, in der Art wie Beziehungen gestaltet werden, in der Erziehung der Kinder, im Sexualverhalten und in al­len anderen Lebensgebieten.

Das alles hat Auswirkungen. Man kann diese Auswirkungen positiv beurteilen oder negativ. Man kann versuchen, sie zu beseitigen oder sie zu verstärken. Aber eins wird man nicht errei­chen: Die Tatsache zu ändern, dass Moral von den Umständen geformt wird.

Ich schreibe bewusst „geformt“ und nicht „bestimmt“. Denn kein Mensch ist den Umständen willenlos ausgeliefert. Die Lebensumstände formen und prägen einen Menschen, aber jeder Mensch ist auch in der Lage, seinerseits seine Lebensumstände zu formen. Zumindest in ei­nem gewissen Rahmen. Und damit wird auch die Moral eines Menschen nicht nur von den Umständen geformt, sondern jeder Mensch kann in einem gewissen Rahmen seine Moral un­abhängig von den Umständen entwickeln.

Der gewisse Rahmen allerdings bleibt. Ein armer Mensch etwa hat ganz von selbst eine ande­re Moral als ein reicher Mensch. Er kann versuchen, bewusst diese Moral zu ändern, und da­bei auch erfolgreich sein. Aber solange die Umstände so bleiben wie sie sind, werden in sei­nem armen Leben andere Fragen und Themen vorherrschen als im Leben eines reichen Men­schen. Unterschiedliche Lebensthemen bewirken aber unterschiedliche Sichtweisen, die wie­derum Einfluss auf die Moral haben. Für einen armen Menschen hat zum Beispiel materielle Sicherheit einen anderen moralischen Wert als für einen reichen Menschen.

Was für den einzelnen Menschen gilt, gilt auch für ganze Gesellschaften. Auch deren Moral wird von den Umständen geformt. Hören Sie mal alten deutschen Menschen zu, wie sehr de­ren Moral von dem Umstand beeinflusst wird, dass sie einen totalen Krieg und eine totale Niederlage erlebt haben. Allein diese Erfahrung hat in den letzten Jahrzehnten in Deutschland zu anderen moralischen Werten geführt als in seinen Nachbarstaaten, etwa beim Verhältnis zu Gewalt sowohl auf staatlicher als auch auf privater Ebene.

Oder die Erfindung eines Medikaments zur Empfängnisverhütung. Damit wurde Sex von der Möglichkeit der Fortpflanzung abgekoppelt, was die Sexualmoral ganz entscheidend verän­dert hat. Erstmals in der Geschichte der Menschheit konnte man Sex nur zum Spaß haben, er diente nicht mehr zwangsläufig ausschließlich zum Erhalt des Volkes/der Sippe/der Familie. Somit bestand keine Notwendigkeit mehr, Sex nur in einem Rahmen auszuüben, in dem die dadurch entstehenden Kinder geschützt aufwachsen konnten. Sex war nun auch vor der Ehe „gut“, da nicht schädlich fürs Ganze.

Doch nicht nur die Sexualmoral änderte sich mit der Verbreitung der „Pille“. Auch die Bezie­hungsmoral wurde wesentlich davon beeinflusst, in Verbindung mit der Abwendung der Mo­ral vom Ganzen hin zum Einzelnen. Feste, dauerhafte Beziehungen wurden für den Fortbe­stand der Gemeinschaft immer unwichtiger – und der Fortbestand der Gemeinschaft an sich geriet schon immer mehr aus dem Blickfeld. Der Kern von Beziehungen ist nun nicht mehr Stabilität und Sicherheit (zum Zwecke des Fortbestands der Gemeinschaft), sondern Selbst­verwirklichung und Wunscherfüllung. Beziehungen sind nur solange „gut“, solange sie mei­ner Befriedigung meiner Wünsche dienen. Kann eine Beziehung das nicht mehr leisten, ist es „richtig“, sie zu beenden.

Moral ändert sich, wenn sich die Umstände ändern. Und Moral muss, um ihren Zweck zu er­füllen, als etwas Festes gesehen werden. Das ist ein Widerspruch, der immer wieder zu Kon­flikten führt – immer dann, wenn sich die Umstände so stark ändern, dass sie die Moral beein­flussen. Da gibt es dann die, die die alte Moral bewahren wollen. Die die veränderten Um­stände ignorieren und eine Anpassung der Moral als „böse“ bewerten. Auf der anderen Seite sind die, die sich von den geänderten Umständen nicht nur formen lassen, sondern ganz und gar bestimmen lassen. Die alles für „gut“ befinden, was anders ist als das Bisherige. Und zwi­schen den beiden Extremstandpunkten gibt es tausende unterschiedlicher Abstufungen bis hin zu „Ist mir doch alles völlig egal“.

Am Ende führt dieser Konflikt zu einer neuen, angepassten Moral. Oft dauert diese konflikt­reiche Periode mehrere Generationen an. Manchmal, wenn es zu großen Umwälzungen kommt, betrifft dieser Konflikt die gesamte Moral einer Gemeinschaft. Wenn sich nur ein Be­reich der Umstände ändert, ändert sich auch nur der betreffende Bereich der Moral. Dieser kann allerdings wieder Auswirkungen auf andere Bereiche haben.

Selbst-Beherrschung

„Weiter, immer weiter“ hat ein Titan des Sports gesagt. Das ist das Mantra unserer Kultur. Es geht immer noch ein bisschen besser. Der Mensch kann alles erreichen, wenn er nur genügend will.

Das ist auch nicht ganz verkehrt. Der Mensch an sich hat schon erstaunlich viel in erstaunlich kurzer Zeit erreicht. Und auch Sie ganz persönlich können weiter kommen, immer weiter, wenn Sie sich nur entsprechend darum bemühen.

Aber das alles hat Grenzen. Irgendwo geht es nicht mehr weiter. Irgendwo gibt es einen Punkt, da sind Sie ganz und gar machtlos. Es gibt da nicht nur einen Punkt, es sind sehr viele Punkte, die aneinandergereiht eine massive Mauer ergeben. Hier ist mal eine (vermutlich unvollständige) Liste, was Sie alles nicht im Griff haben:

  • Die Tatsache dass Sie überhaupt leben
  • Ihre genetische Ausstattung
  • Die Tatsache, wer Ihnen diese genetische Ausstattung weitergegeben hat – also Ihre Eltern und Ihre ganzen Vorfahren
  • Die Prägung durch Ihr soziales Umfeld, durch Ihre Eltern, Ihre Familie, Ihr Dorf / Ihre Stadt, Ihr Land, die Zeit, in die Sie hineingeboren wurden
  • Das alles, was daraus resultiert: Ihr Charakter, Ihre Begabungen, Ihre Unfähigkeiten, Ihr Körper
  • Ihre Vorlieben und Abneigungen – die sind einfach da, und Sie können Sie nicht willentlich aus- und anschalten, höchstens verdrängen
  • Ihre Gedanken – die kommen einfach; Sie können nicht beschließen, jetzt absichtlich an etwas zu denken, denn in dem Moment dieses Entschlusses denken Sie ja schon daran
  • Ihr Erinnern und Vergessen
  • Alles was unbewusst in Ihnen abläuft, seelisch, geistig und körperlich
  • Einflüsse auf Ihr Leben durch andere, z.B. durch die Autofahrerin, die Sie vom Fahrrad runterfährt weil sie gerade auf ihr Handy schaut
  • Ihre Vergangenheit, mitsamt all den Erfahrungen, die Sie da gemacht haben
  • Krankheiten
  • Die Dauer Ihres Lebens

Das alles haben Sie nicht im Griff. Sie haben es sich nicht ausgesucht. Es ist einfach so. Sie können bei manchen Dingen in einem engen Rahmen etwas daran ändern. Sie können durch eine entsprechende Lebensweise versuchen, Krankheiten zu verhindern und Ihr Leben zu verlängern. Ob das aber zum Erfolg führt, das können Sie wiederum nicht beeinflussen. Sie können durch Ihr Verhalten versuchen, Unglücke aller Art zu vermeiden. Aber es kann Ihnen dann trotzdem etwas zustoßen. Sie können durch Bildung Ihre Intelligenz in geringem Maße steigern. Aber ob Sie überhaupt den Antrieb dazu haben: Das haben Sie nicht im Griff. Sie können die Prägung durch Ihre Eltern und Ihr frühes Umfeld geringfügig verändern – ganz davon los kommen Sie nie.

Was immer geht: Kaputt machen. Ihre Intelligenz auf null herunterzufahren ist leicht. Es braucht nur genügend Einsatz von Alkohol oder Drogen. Leben verlängern ist aufwendig und ungewiss. Leben vorzeitig beenden ist wesentlich einfacher. Vielleicht haben Menschen deshalb so eine Lust an der Zerstörung. Weil sie damit endlich Macht ausüben können.

„Weiter, immer weiter“ – bis man gegen die Mauer rennt. Was täglich hunderte Male geschieht. Und wir haben uns schon so an die Schrammen und Beulen gewöhnt, dass wir sie gar nicht mehr wahrnehmen und auch die Mauer ignorieren und meinen, wir könnten uns selbst beherrschen. Der Mensch ist schon ein putziges Wesen.

Leben mit Ihm

Jesus ist das Zentrum, um das sich alles dreht, hat der alte weise Mann im vorigen Artikel geschrieben. Was heißt das nun in der Praxis? Wie lebt es sich mit Jesus und seinem Vater und in ihrem Geist?

Aus über fünfzig Jahren Erfahrung gesagt: Es lebt sich gut. Es lebt sich leicht. Leichter jedenfalls als ein Leben ganz allein auf sich selbst gestellt. Manchmal ist es auch ein Kampf, gelegentlich steht man verwirrt und/oder verwundert da, man durchlebt Höhen und Tiefen. Aber man durchlebt sie leichter.

Wenn man mit Jesus lebt, ändert sich nichts und alles. Man bleibt immer noch der selbe Mensch, mit allen Stärken und Schwächen. Was sich ändert: Man lebt in dem Bewusstsein, dass man nicht allein ist. Dass man seine Existenz nicht allein aus eigener Kraft bewältigen muss. Dass es da jemanden gibt, der gut zu mir ist und der praktischerweise auch noch allmächtig ist. Was in der Praxis bedeutet: Im Leben mit Gott ist alles möglich. Auch das Unmögliche. Was wiederum in der praktischen Anwendung der Praxis bedeutet: Ich muss vor nichts Angst haben. Ich kann mir und dem Rest der Welt alles zutrauen.

Wobei: Das ist jetzt nicht ganz korrekt formuliert. Es steigt nicht das Zutrauen in mich selbst oder den Rest der Welt. Es steigt das Zutrauen in Gott. Gott bewirkt alles. Wenn mein Glaube an Gott, an Jesus nur der Selbstoptimierung dient, dann scheitert er. Dann scheitere ich mit meinem Leben. Dann benutze ich Gott nur als Hilfsmittel für meine Zwecke. Was immer schief geht.

Mein Selbstzutrauen steigt wenn ich dem Bewusstsein lebe, dass es nicht um mich geht. Dass „der Erfolg“ nicht von mir abhängt. Wenn ich mich ganz in Gott fallen lasse, dann bin ich der Größte, Stärkste, Erfolgreichste. Paradox. Aber leicht zu leben. Ehrlich.

Das Ganze gilt allerdings unter einer Voraussetzung. Das hat der alte weise Mann hier schon öfter gesagt, und er wird es noch oft sagen: Es geht bei all dem Gesagten hier nicht zuerst um Lebensbewältigung, es geht um Wahrheit. Wenn dieser Gott nicht existiert, wenn dieser Jesus nicht Gott ist, dann ist auch dieses ganze Selbstzutrauen in völliger Hingabe an diesen Gott eine Illusion. Dann ist mein ganzes Leben, Ihr ganzes Leben mit diesem Gott komplett für’n Arsch.

Deshalb gilt: Zu einem Leben mit Jesus gehört auch immer wieder der Blick auf eben diesen Jesus, auf seinen Vater, auf ihren Geist. Ein ehrlicher Blick. Nicht ein Fragen nach dem Motto „Was hätte ich denn gerne, damit ich weiter beruhigt vor mich hinwurschteln kann?“. Sondern immer wieder die Frage: „Wie ist die Realität?“ Also die reale Realität, nicht Ihre persönliche Wunschrealität.

Alles anders, immer

Das Leben in der Realität ist das einzig sinnvolle Leben, hat der alte weise Mann im Vorwort geschrieben. Diese Realität ist ein Universum, das nach eindeutigen Regeln von Ursache und Wirkung funktioniert. Daraus folgt eine weitere Eigenart der Realität: Es geschieht immer etwas. Nichts kann sich der Einwirkung durch den Rest des Universums entziehen. Pausenlos wirken Gigantillionen von Vorgängen auf andere Vorgänge ein. Mit anderen Worten: Es gibt im Universum keinen Stillstand. Alles ist Bewegung und Veränderung. Von den riesigen Galaxien bis zu den kleinsten Bestandteilen eines Atoms. Auch Sie selbst verändern sich unaufhörlich. Ihr Körper bildet neue Zellen, alte Zellen sterben ab, Blut fließt, Nervenimpulse strömen, ihr Gehirn arbeitet ununterbrochen. Dasselbe gilt für Sie als Persönlichkeit. Sie verändern sich jeden Tag. Sie machen neue Erfahrungen, Sie vergessen, Sie erinnern sich. Meistens sind das nur unmerkliche Veränderungen, manchmal machen Sie einen großen Sprung.

Die Realität ist also Veränderung. Nie gibt’s Ruhe. Das überfordert viele Menschen. Deshalb flüchten sie aus dieser anstrengenden Realität in ein persönliches Universum, in dem alles festgefügt ist. „Das war schon immer so, das haben wir noch nie gemacht, und da könnte ja jeder kommen.“ Vor allem wenn es jemandem gut geht, ist jede Veränderung angsteinflößend. „Okay“, heißt es dann, „bis jetzt war alles in Entwicklung. Aber nun habe ich ein Endstadium erreicht, das sich nie mehr ändern darf.“ Doch schnell kommt die Realität ums Eck und sagt: „Ne, das jetzt ist auch nur ein Durchgangsstadium.“ Und prompt ist der Mensch beleidigt und macht der Realität / dem Schicksal / Gott bittere Vorwürfe. „Jetzt war ich 56 Jahre lang gesund. Warum ändert sich das jetzt?“ „Wir leben seit Jahrzehnten in Frieden und Sicherheit. Das darf nie mehr anders werden, koste es was es wolle!“ „Wir zwei sind so verliebt ineinander. So bleibt es die nächsten hundert Jahre. Und wenn nicht: Dann ist unsere Beziehung am Ende.“

Das alles ist einer der verbreitetsten Gründe weshalb Menschen leiden. Weil sie in einem Parallel-Universum leben, in dem sich nie etwas ändert.  Und weil der Mensch an sich eine Eigenart hat, die ihm das Leiden erst so richtig ermöglicht: Er sieht nur das was er verliert. Das was er hat ist selbstverständlich. – Dass ich lebe: Äh, klar, warum nicht? Dass ich dieses Leben wieder verliere: Nö, auf keinen Fall! Dass ich dieses Leben ohne körperliche Einschränkungen leben kann: Also bitte, da brauchen doch gar nicht darüber reden! Dass ich diese Gesundheit verliere: Böse Welt! Böser Gott! Dass es unserer Gesellschaft so gut geht wie noch nie: Was weiß ich von „wie noch nie“! Ich kenn es nicht anders. Dass Menschen unseren Wohlstand und Frieden bedrohen, möglicherweise: Skandal! Lasst sie alle absaufen!

Sinnvolles Leben ist Leben in der Realität. In der tatsächlich existierenden Realität. Diese Art zu leben ist auch viel weniger anstrengend. Man bekommt nicht jeden Tag zehnmal eins von der Realität auf die Rübe. Man muss sich viel weniger aufregen und kann sein Leben gelassener angehen, wenn man in dem Bewusstsein lebt, dass eh alles nur vorübergehend ist. Dann genießt man das was man hat auch viel intensiver. Weil man weiß: Man hat nicht ewig Zeit dafür. Und das Verlieren fällt leichter, wenn man weiß: Ich verliere ohnehin. Jeden Tag ein bisschen und am Ende alles. Egal ob ich dagegen ankämpfe, davor davonlaufe oder es akzeptiere. Nur: Akzeptieren kostet am wenigsten Kraft, beim selben Ergebnis. Also …

Es kommt zur Sprache

Sprache – die wichtigste Erfindung des Menschen. Das Wesentlichste, was den Menschen vom Tier unterscheidet. Sprache ist das was dem Menschen erst Planung ermöglicht, in die Zukunft gerichtet zu leben, Wissen und Können weiterzugeben und Wissen und Können zu erwerben ohne es vorgemacht zu bekommen. Sprache ist auch das was dem Menschen ermög­licht, in die Vergangenheit zu schauen, zu verstehen und zu lernen. Kultur ist nur mit Sprache möglich. Auch ein komplexeres soziales Leben, das nicht nur aus dem Ausleben von Trieben besteht, funktioniert nur mit Sprache.

Sprache ist also etwas Urmenschliches. Aber sprechen wir auch das was wir denken?

Gelegentlich. In den seltenen Fällen, in denen wir tatsächlich in ganzen, ausformulierten Sät­zen denken, sagen wir dann auch, was wir denken. Aber – der größte Teil des Denkens geschieht ohne Sprache; und wenn Denken sprachlich abläuft, dann nur sehr, sehr selten in vollständig ausformulierter Sprache.

Wenn Denken sprachlich verläuft, dann fast immer in der Form „Oh weh!“, „Da hinten dings!“, „Ich muss gleich also hm ja“ oder „☺“ oder so ähnlich. Wenn wir sagen würden was wir denken, würden wir meistens in dieser Form reden. – Äh, wenn ich so drüber nachdenke: Die meisten Gespräche laufen tatsächlich so ab.

Man sagt in der Tat meistens das was man denkt. Das ist deshalb sehr häufig wirr, bruch­stückhaft und nur für einen selbst verständlich – bestenfalls. Wenn man sich anderen ver­ständlich machen will, muss man nachdenken – oder besser gesagt: vor-denken. Das ist müh­sam und hält einen ständig auf. Deshalb gibt es zwei Konzepte von Sprache. Konzept A: Der Mensch denkt vorher darüber nach, was er sagen will und sagt dann genau das was er eben gedacht hat. Konzept B: Der Mensch sagt irgendetwas. In guten Momenten denkt er hinterher darüber nach, was er gerade gemeint hat. Das ist aber nicht verpflichtend.

99,9 % der Gesprächsäußerungen entstammen dem Konzept B.

Ein A-Mensch versucht zu sagen was er meint und denkt zu diesem Zweck nach bevor er re­det. Er meint im Allgemeinen dann auch das was er sagt so wie er es sagt. Er nimmt das was andere sagen so wie sie es sagen.

Ein B-Mensch spricht so wie er denkt – ungeordnet, unvollständig, wi­dersprüchlich, unkontrolliert. Das was er sagt ist nicht unbedingt das was er meint. Wenn er „Ja“ sagt kann das unter günstigen Umständen auch „Ja“ bedeuten. Es kann aber auch „Nein“ heißen oder „Vielleicht“, oder „Keine Ahnung“ oder „Hau ab, du gehst mir auf die Nerven“ oder „Pfrmftl“.

Für einen B-Menschen haben deshalb Worte keine spezielle Bedeutung. Er geht aus diesem Grund selbstverständlich davon aus, dass auch das Reden aller anderen Menschen ohne Be­deutung ist.

Diese beiden Konzepte funktionieren wunderbar, solange sie unter sich bleiben. Kritisch wird es, wenn ein A-Mensch und ein B-Mensch aufeinander treffen. Der B-Mensch nimmt selbst­verständlich an, dass der A-Mensch auch nur Bedeutungsloses von sich gibt. Das führt zur Verärgerung des A-Menschen und in der Folge zur Verärgerung des B-Menschen. Dieser Konflikt kann dann aber leider durch kein Gespräch gelöst werden, weil dieses Gespräch wie­derum im Konflikt zwischen Konzept A und B verläuft und somit den Ärger nur noch vergrö­ßert.

Gelegentlich wechselt ein B-Mensch zumindest vorübergehend die Seiten. Dann wird alles gut. Ansonsten bleibt den A-Menschen nur, resignierend die Unbestimmtheit der B-Men­schen-Sprache hinzunehmen und immer wieder zu versuchen, aus dem in B-Sprache Gespro­chenen einen Sinn zu entlocken.

Dieser ganze Konflikt zwischen den beiden Sprachverständnissen ist sehr schade. Denn – wie bereits erwähnt – Sprache ist die wichtigste und wertvollste Erfindung des Menschen. Sprache macht den Menschen erst zum Menschen.

Andrerseits macht der Mensch ja auch die Sprache. Weshalb die Sprache zwangsläufig so ist wie der Mensch und sein Denken: in Unordnung geordnet, sprunghaft folgerichtig, in Wider­sprüchen eindeutig, unbewusst beabsichtigt. Und vom Grundantrieb des Menschen, der Be­quemlichkeit, bestimmt. Was bedeutet: Sprache wird so gestaltet, dass man dabei möglichst wenig denken muss. Deshalb der Erfolg von Sprachkonzept B. Deshalb die ständige Spannung zwischen Eindeutigkeit und Einfachheit in der Entwicklung von Sprachen.

Lieber Leser (m/w/d), hören Sie den verzweifelten Appell des alten weisen Mannes: Achten Sie auf Ihre Sprache! Denken Sie zuerst und sprechen Sie dann! Genau deshalb sind Sie ein Mensch geworden, und kein Schaf, das nur blöken kann!

Die Gretchenfrage

In Goethes Faust stellt Gretchen dem Titelhelden einmal die Gretchenfrage. Frage für Klugscheißer: Wie lautet diese Frage? Antwort: „Sag, Heinrich, wie hältst du’s mit der Religion?“

Der moderne Heinrich verdreht bei dieser Frage die Augen. Die Henriette auch. Religion ist ja so was von out. „Die Religion“ ist ja auch schuld an allen Übeln dieser Welt. Und überhaupt! Heinrich und Henriette brauchen keine Religion. Sie sind sich selbst gut genug.

Kann man so sehen. Wenn man etwas Entscheidendes übersieht: „Ich bin nicht religiös“ ist auch schon eine religiöse Aussage. Denn jeder Mensch ist religiös. Weil jeder Mensch etwas glaubt. Jeder Mensch hat gewisse Grundannahmen, woher er (und der Rest der Menschheit) kommt, wohin er geht und was das dazwischen alles soll. Manche Menschen haben irgendeinen Gott als Grundannahme, manche Menschen glauben an das Nichts, die meisten Menschen glauben an Wurscht („Das is‘ mir doch alles wurscht!“). Aber jeder Mensch glaubt irgendwas.

„Ich glaube an nichts“ gibt’s nicht. Was es gibt: „Ich glaube an Nichts“. Kleiner Unterschied in der Grammatik, großer Unterschied im Leben. Denn ohne Glauben kann der Mensch nicht leben. Er braucht Sinn, er braucht Schubladen, in die er alles stecken kann. Im Kleinen, im Alltäglichen wie im Großen. Im Wesentlichen gibt es drei Schubladen: 1) Alles hier wurde von irgendjemandem gemacht, 2) alles hier ist von selbst entstanden, 3) das ist mir doch alles wurscht.

Egal in welcher Schublade jemand steckt: Es hat Auswirkungen auf das praktische Leben. Das ist dann die Religion. Ein Mensch, der an einen Gott glaubt, lebt anders als jemand, der sich völlig auf sich allein gestellt sieht. Das Leben von Gottgläubigen unterscheidet sich stark, je nachdem ob der geglaubte Gott ein liebender Gott ist, oder ein strafender, oder ein gleichgültiger. Und wer an Wurscht glaubt, ist den ganzen Tag damit beschäftigt, vor der Erkenntnis zu fliehen, dass es Wurscht nicht gibt und man sich dieser Frage nach dem Leben, dem Universum und allem nicht entziehen kann. Eine ganze Vergnügungsindustrie lebt von dieser Flucht vor der Gretchenfrage ins Wurscht.

„Religion“ sagen die angeblich Nichtreligiösen und meinen damit „Religion mit Gott“. Sie verkennen dabei, dass es auch Religion ohne Gott gibt. Weil der Mensch eben nicht ohne Sinn und Welterklärung auskommt. Gottfreie Religionen sind zum Beispiel Kommunismus, Nationalsozialismus, die freie Marktwirtschaft, die Wissenschaft, die Selbstoptimierung, der Fortschritt, und – vor allem: das Ich.

Der Heinrich, der an die Selbstoptimierung als Lebenssinn glaubt, geht anders mit Menschen um als Henriette, die an einen liebenden Gott glaubt. Heinrich geht anders mit sich selbst um als Henriette. Heinrich sucht sich einen anderen Beruf als Henriette. Heinrich hat anderen Sex als Henriette. Heinrich hat andere religiöse Rituale als Henriette. Er geht nicht in die Kirche, er geht zu einem Marketing-Guru, der ihm die neueste Selbstoptimierungs-Heilslehre erklärt. Und wenn er nebenher noch wissenschaftsgläubig ist, dann liest er in den Heiligen Schriften von Stephen Hawking oder eines anderen Messias.

Jeder Mensch ist religiös. Und Sie? Wie halten Sie es mit der Religion?

Endlich – der Verstand

Der alte weise Mann war mal ein junger nicht ganz so weiser Mann.  Irgendwann kurz nach dem Ende der letzten Eiszeit. Damals hatte er einen Grundsatz: Es zählt nur der Verstand. Alles andere ist minderwertig. Also Gefühle, Intuition und so Zeug.

Nach ein paar Jahrzehnten Gebrauch dieses Verstandes brachte eben dieser Verstand den alten weisen Mann zu der Einsicht: Der Verstand hat Grenzen. Nicht nur bei ihm, sondern bei allen Menschen. Der Verstand hat sogar zwei Grenzen: Eine nach außen und eine nach innen.

Jeder Mensch kommt irgendwann an einen Punkt, an der sein Verstand an eine Mauer fährt und anschließend benommen liegen bleibt oder in eine falsche Richtung abbiegt. Manche Menschen erreichen diese Grenze früher und öfter, andere später und seltener. Aber selbst das größte Genie hat keinen unendlichen Verstand.

Dies ist die äußere Grenze des Verstandes. Die innere Grenze liegt im Menschen selbst. Denn das Gehirn des Menschen ist kein Computer. Es funktioniert nicht logisch, es funktioniert assoziativ. Beim menschlichen Gehirn geht Schnelligkeit vor Genauigkeit. Deshalb versucht der Mensch immer, Verbindungen zu schaffen zwischen Erfahrungen, Dingen, Informationen. Ob das dann passt, ist zweitrangig. Hauptsache man hat erst mal eine Schublade gefunden, in die man es reinstecken kann. Logisch denken kann man dann ja später noch. – Tut man dann bloß selten. Weil man ja mit Schubladenbefüllen voll ausgelastet ist.

Dazu kommt noch, dass sich das Gehirn nur das merken kann, was irgendwie mit irgendeinem Gefühl verbunden ist. Was einem wurscht ist, das merkt man sich nicht. Deshalb gibt es kein Denken mit dem Verstand, das nicht frei von Gefühlen ist. Zu dem allem gesellt sich dann noch die fast unendliche Fähigkeit des Menschen zur Verdrängung. Wenn er etwas nicht sehen will, dann sieht er es nicht. Egal wie intelligent er ist. Egal wie deutlich ihm das vor Augen steht, was er nicht sehen will.

Der menschliche Verstand ist also begrenzt. Aber innerhalb dieser Grenzen haben die meisten Menschen einen größeren Bewegungsraum als sie ihn je nutzen. Weil dieser Raum vollgemüllt ist mit Schubladen, unsinnigen Verbindungen, und verdrängten Realitäten. Haben Sie nicht Lust, da mal aufzuräumen? So ein frei beweglicher Verstand (in all seinen Grenzen) ist was Schönes! Schöner jedenfalls als in so einer Müllhalde zu leben.