Denk! Nicht! Dran!

Es gibt vieles, was den Menschen vom Tier unterscheidet. Zuallererst mal die Sprache. Nur der Mensch hat die Fähigkeit, Luft gezielt in Bewegung zu versetzen und die dabei entstehenden Schallwellen mit einer enormen Vielzahl von Informationen zu versehen, die beim menschlichen Empfänger wiederum in Gedanken, Gefühle und Handlungen umgewandelt werden. Es gäbe kein Reflektieren und damit keine Kultur, keine Wissenschaft, keine großen Gemeinschaften, keine Kriege ohne Sprache.

Noch faszinierender als die Sprache ist allerdings eine andere typisch menschliche Fähigkeit: Die Verdrängung.

Verdrängung ist mehr als nur Vergessen. Verdrängung ist Vergessen plus Vergessen, dass man vergisst plus Vergessen des Speicherplatzes des Verdrängten plus Vergessen, dass dieser Speicherplatz überhaupt existiert. Plus – natürlich – den ganzen Vorgang des Vergessens schon mal gar nicht zu bemerken.

Jeder Mensch verdrängt etwas. Erlebnisse und Erfahrungen, die schmerzhaft oder beschämend sind. Erkenntnisse, die einen selber in Frage stellen würden. Teile der Persönlichkeit, die unangenehm sind.

Das Faszinierende am Verdrängen ist, was das für ein hochkomplexer Vorgang ist. Das beginnt schon damit, dass das alles absichtlich geschieht, aber zu keinem Zeitpunkt bewusst werden darf. Denn der Mensch verdrängt ja nicht aus Spaß an der Übung, sondern weil er irgendetwas äußerst Unangenehmes los werden will. Das aber da ist und nie mehr verschwinden wird. Also muss es irgendwo hin, wo der bewusste Mensch nie hin kommt; und am besten der unbewusste Mensch auch nicht.

Das Ganze funktioniert aber nur, wenn der Mensch selbst nicht bemerkt, dass er das Unangenehme irgendwo weit weg deponiert. Er muss also verdrängen dass er verdrängt. Die Verdrängung des Verdrängens darf er aber auch nicht bemerken, weshalb er auch die Verdrängung des Verdrängens verdrängen muss.

Aber es kommt noch härter. Denn das alles ist ja kein einmaliger Vorgang. Verdrängung funktioniert nur, wenn sie in jeder Sekunde des Lebens reibungslos funktioniert. Das heißt: Der Mensch muss pausenlos die Verdrängung der Verdrängung der Verdrängung verdrängen.

Dazu kommt, dass ihm auch nicht bewusst werden darf, worum es bei seiner Verdrängung geht. Ein Beispiel: Ein Mensch wird sexuell missbraucht. Diese Erfahrung ist für ihn so furchtbar, dass er sich nicht damit auseinandersetzen kann. Er verdrängt sie. Und verdrängt diese Verdrängung. Aber nicht nur das. Wenn er jetzt nur diese spezielle Erfahrung verdrängen würde, dann gäbe es für ihn immer noch viele Hinweise darauf, was er verdrängt. Immer wenn er beim Sex Probleme hat, zum Beispiel. Oder wenn er dem Täter begegnet oder auch nur seinen Namen hört. Oder jemanden trifft, der den gleichen Vornamen hat. Also muss der Mensch, um die Verdrängung aufrecht zu erhalten, auch jede gedankliche Verbindung zu der furchtbaren Erfahrung kappen. Was aber wiederum nur klappt, wenn er andere Begründungen findet, warum er z.B. Probleme beim Sex hat oder diesen einen speziellen Vornamen nicht hören will.

Verdrängung breitet sich also immer weiter aus. Und sie darf keine einzige Sekunde fehlschlagen. Wenn das zu Verdrängende auch nur einen Augenblick ins Bewusstsein kommt, dann ist sie für alle Zeiten vorbei. Das heißt: Irgendwo im Menschen ist eine Instanz, die pausenlos darüber wacht, dass ja kein Weg zum Verdrängten hinführt. Diese Instanz muss aber selbstverständlich so arbeiten, dass der Mensch nicht mal bemerkt, dass sie da ist.

Also: Verdrängung ist höchst komplex, nimmt immer mehr Platz im Leben ein, strengt enorm an und verbraucht viel Energie, die einem woanders fehlt. Es wäre gescheiter, man würde sie lassen. Geht aber nicht, weil man ja nicht bemerkt dass man es tut. Mensch sein ist nicht leicht.

Reden ohne zu verstehen

Die meisten Menschen reden von Gott als ob sie eine Ahnung hätten. Das gilt auch für Atheisten. Das ist überhaupt unabhängig von der Religion.

Die Wahrheit ist: Kein Mensch hat eine Ahnung, wenn es um Gott geht. Null. Absolut kein Hauch einer Spur von Ahnung.

Gott übersteigt menschliches Verstehen. Wenn es jemanden gibt, der das alles hier aus nichts erschaffen kann, dann muss er mehr sein als nur ein menschlicher Superstar mit übernatürlichen Fähigkeiten. Dann ist er ganz anders. Nicht größer, nicht gewaltiger, nicht klüger als der Mensch. Anders. Komplett anders.

„Komplett anders“ heißt in der Praxis: Es gibt nichts in dieser Welt, was Gott ähnlich ist. Es gibt nichts in dieser Welt, aus dem wir darauf schließen könnten, wie Gott ist.

Es gibt übrigens auch nichts in dieser Welt, aus dem wir schließen könnten, dass es Gott nicht gibt. Wir können allein aus unserem eigenen Vermögen nichts über Gott oder Nicht-Gott sagen. Rein gar nichts.

Und trotzdem reden Menschen von Gott oder Nicht-Gott, als ob sie eine Ahnung hätten. Weil sie es nicht aushalten, in einem kalten uninteressierten Universum zu leben. Oder von etwas geschaffen worden zu sein, das sie nie verstehen werden. Und dann auch noch vollständig abhängig zu sein davon. Darum machen sie sich einen Gott oder Nicht-Gott, den sie verstehen und den sie dann im besten Fall auch beherrschen können. Das ist der eigentliche Zweck von Gebeten, Opfern, Gelöbnissen: Ich gebe dir, Gott, etwas, und damit habe ich einen Anspruch darauf, dass du nach meinen Vorstellungen funktionierst.

Das ist auch der eigentliche Zweck von Wissenschaft: Ich ringe dem kalten uninteressierten Universum seine Geheimnisse ab, um es dann zu beherrschen, damit es nach meinen Wünschen läuft.

Dummerweise klappt beides nicht. Wissenschaft verbessert zwar im günstigsten Fall das Leben vieler Menschen auf Kosten weniger Menschen und sonstiger Lebewesen. Aber mit jeder gefundenen Antwort tauchen hundert neue Fragen auf. Es wird nie ein Ende geben. Wirklich verstehen und beherrschen werden wir das Universum nie. Wir verstehen und beherrschen ja nicht einmal uns selber.

Und Gott lässt sich sowieso nie verstehen, geschweige denn beherrschen. Deshalb ist jedes Reden über Gott eine Themaverfehlung. Wir haben alle keine Ahnung. Weder von Gott noch von Nicht-Gott. Darum: Entspannt euch alle! Ihr seid alle gleich dumm. Es ist also sinnlos, sich gegenseitig Stress zu machen, weil jeder auf eine andere Weise diese Ahnungslosigkeit verdrängt.

Später dazu mehr.

Scheißegal

Alle Menschen haben ein grundlegendes Problem mit dieser Welt. Dieses Problem heißt: Wir sind dem Universum scheißegal.

Das ist schon allein deshalb so, weil das Universum keine Gefühle oder Absichten hat. Das Universum ist einfach eine ziemlich ausgedehnte Ansammlung von Atomen. Es hat keinen Willen, keinen Geist. Nun hat sich aber in diesem Universum eine bestimmte Art von Atom-Ansammlungen entwickelt, die nicht nur einfach funktioniert, sondern die weiß dass sie funktioniert, die über dieses Funktionieren nachdenken kann und deshalb in der Lage ist, Fragen zu stellen.

Und so tauchte bei dieser Ansammlung von Atomen namens Mensch schon bald die Frage auf: „Was soll denn der ganze Schmarrn?“ Diese Frage treibt jeden Menschen um. Noch mehr treibt es die Menschen um, dass sie keine verlässliche Antwort darauf bekommen. Weil eben dieses Universum nicht mal mit den Schultern zuckt, wenn man es fragt.

Es gibt und gab mehrere Möglichkeiten, wie Menschen mit dieser unbefriedigenden Situation umgehen. Nr. 1, die häufigste Reaktion: Nicht mehr weiter fragen. Augen zu und durch durch dieses Leben. Das ist die bequemste Lösung, aber auch die anstrengendste. Denn sie funktioniert nur, wenn man sich sein Leben lang ablenkt. Man muss jede Gelegenheit vermeiden, die irgendwie Anlass zum Nachdenken geben könnte. Das heißt in der Praxis: Pausenlose Action, Hektik und Betrieb. Und am effektivsten: Vorsätzlich so verblöden, dass man irgendwann gar nicht mehr nachdenken kann.

Nr. 2, eine weitere weit verbreitete Reaktion auf dieses geist- und leblose Universum: Die Menschen füllen es einfach mit Geist. In früheren Zeiten und in einfachen Kulturen wird die Natur vergöttert. In unserer geistig so furchtbar fortgeschrittenen Kultur geschieht dasselbe, nur etwas subtiler. Da heißt es dann: „Die Natur hat es so eingerichtet dass …“ oder „Die Evolution hat das Ziel dass …“ Auch der aufgeklärte moderne Mensch hält es nicht aus, dass „die Natur“ einfach so funktioniert, ohne dass das etwas mit ihm zu tun hat.

Reaktion Nr. 3: Der Mensch denkt sich etwas, das dieses Universum geschaffen hat und der/die/das das alles natürlich nur wegen dem Menschen gemacht hat. Wenn wir schon dem Universum scheißegal sind, dann kümmert sich wenigstens jemand/etwas außerhalb des Universums um uns.

Reaktion Nr. 4: Leben im vollen Bewusstsein, dass allein aus dieser Welt kein Sinn erwächst, dass sich diese Welt nicht um uns dreht, dass es nicht den geringsten Unterschied macht, ob ich existiere oder nicht. Diese Haltung vertreten viele – sagen sie zumindest. Wirklich durchhalten tut es keiner. Das übersteigt einfach menschliches Vermögen. Die meiste Zeit verbringen solche Menschen dann doch mit Reaktion Nr. 1 und/oder Nr. 2.

Gleichgültig aber wie man auf dieses Dilemma reagiert: Es ist der Hauptantrieb für das menschliche Handeln. Dazu später mehr.

Von der Würde jedes Menschen

„Die Würde des Menschen ist unantastbar“, lautet die wichtigste Aussage des Grundgesetzes. Unser ganzes Rechtssystem und unsere Gesellschaft gründen darauf. Heißt es zumindest. Bis jetzt.

„Menschenwürde“ – das klingt sehr abstrakt. Was bedeutet dieser Begriff? Und welche Be­deutung hat er für unser praktisches Leben?

„Würde“. Ein altes Wort. Fast schon ein veraltetes Wort. Heute zählt eher der Wert. Was aber etwas ganz anderes ist. Wie heißt es in einer Werbung: „Das und das: Soundsoviel Euro. Alles andere: unbezahlbar.“ Genau das macht etwas würdevoll: Dass es nicht in Euro zu beziffern ist, weil es etwas ganz Besonderes, Einmaliges ist, für das es keinen Gegenwert gibt.

Eben das macht die Würde eines jeden Menschen aus: Jeder Mensch ist etwas Besonderes. Denn jeder Mensch ist einmalig. Es hat ihn noch nie zuvor gegeben und es wird ihn nie mehr danach geben. Das Leben eines jeden Menschen ist einzigartig.

Darauf beruht die Würde eines jeden Menschen. Auf seiner Einmaligkeit. Auf seiner Einzig­artigkeit. Jeder Mensch hat die volle Würde, einfach weil er da ist. Deshalb hat er keinen Wert, sondern Würde.

Die Würde des Menschen hat also nichts mit irgendeinem Wert zu tun. Sie kommt nicht von bestimmten Eigenschaften des Menschen, sie ist unabhängig von Leistung und vom Wert für andere oder „die Gesellschaft“. Jeder ein­zelne Mensch ist würdevoll, weil jeder einzelne Mensch einmalig ist. Und deshalb ist diese Würde unantastbar.

Genau dies – die Würde des Menschen anzutasten – wird aber seit allen Zeiten versucht. Und nicht nur versucht, sondern durchgeführt.

Es beginnt immer damit, dass die Menschenwürde eingegrenzt wird. Als richtiger, voll-werti­ger Mensch wird man dann nur noch angesehen, wenn man über bestimmte Eigenschaften verfügt oder zu bestimmten Leistungen in der Lage ist oder einen bestimmten Wert für andere hat. Die Würde wird durch den Wert ersetzt.

Das führt dann dazu, dass Gruppen von Menschen, die diese Kriterien nicht erfüllen, als min­der-wertig angesehen werden, eben als nicht mehr „würdevoll“. Man spricht ihnen das volle Menschsein ab oder erklärt sie gleich zu Nicht-Menschen. Mit der Folge, dass sie außerhalb der menschlichen Gemeinschaft gestellt werden und man mit ihnen alles tun darf. Auch, und vor allem: töten.

So wurde in unserem Land schon einmal die Menschenwürde von bestimmten (fiktiven) ver­erbten Eigenschaften abhängig gemacht. Die deutsche Menschheit wurde aufgeteilt in voll­wertige Menschen, genannt Arier und minderwertige Menschen, genannt Juden. Und in der Folge wurden Millionen einzigartiger Leben einmaliger Menschen vernichtet.

So wird in vielen Ländern die Menschenwürde von Leistung abhängig gemacht, nämlich von erwünschtem sozialen Verhalten. Wer dem nicht entspricht und kriminell wird, dem wird die Menschenwürde aberkannt und der darf dann hingerichtet werden. Das einzigartige Leben ei­nes einmaligen Menschen darf ausgelöscht werden.

So wird nicht nur in unserem Land eine bestimmte Bevölkerungsgruppe zu Nicht-Menschen deklariert und als „Zellgewebe“ oder „Fötus“ oder „werdendes“ Leben bezeichnet. Was den „richtigen“ Menschen das Recht gibt, diese angeblichen Nicht-Menschen zu Millionen zu tö­ten. Zwar verbotenerweise, aber straffrei.

Doch es gilt: Der Mensch ist Mensch von Anfang an. Vom Moment der Zeugung an hat jeder Mensch die volle Menschenwürde. Und die behält er bis zum Ende seines Lebens. Unabhän­gig von seinen Eigenschaften, seiner Leistungsfähigkeit, seiner Nützlichkeit. Egal ob dieser Mensch gerade erst aus zwei Zellen besteht, ob er dement ist, im Koma liegt, ein gewissenlo­ser Vergewaltiger ist oder einfach nur woanders herkommt.

Jeder Mensch ist etwas ganz Besonderes, weil es ihn noch nie gegeben hat und ihn nie mehr geben wird. Das Leben, das er lebt, wird nie mehr gelebt werden. Das gibt jedem Menschen seine Würde.

Und das gibt jedem Menschen die Pflicht, mit jedem anderen Menschen entsprechend würde­voll umzugehen. Das heißt zunächst einmal, ihn leben zu lassen. Das heißt dann aber auch, ihm mit dem Respekt und der Achtung zu begegnen, die diesem würdevollen Menschen ge­bühren. Was wiederum bedeutet: Ich achte die Würde eines Menschen, indem ich dazu beitra­ge, dass sein Leben gelingen kann. Dieses einzige Leben, das er hat.

Glaube und Überzeugungen spielen dabei keine Rolle. Weder auf der einen Seite noch auf der anderen. Ich muss nicht an einen Gott glauben, um einem anderen Menschen Respekt und Achtung entgegenzubringen. Es reicht zu wissen, dass der andere genauso einmalig ist wie ich. Die Würde des Menschen nicht anzutasten ist eine alltägliche Aufgabe für Christen, Mos­lems, Atheisten und Angehörige jeder anderen Religion.

Bequemlichkeit

Der Hauptantrieb eines jeden Menschen ist die Bequemlichkeit.

Wenn ein Mensch vor einer Entscheidung zwischen zwei Handlungsmöglichkeiten steht, wird er immer (sofern er nicht nachdenkt) die Möglichkeit nehmen, die ihm jetzt, in diesem Augenblick weniger unange­nehm ist. Auch wenn er weiß, dass das dann später jede Menge viel unangenehmerer Folgen haben wird. „Unangenehm“ heißt: Mit Kraftaufwand in irgendeiner Form verbunden.

Die Bequemlichkeit ist jede Anstrengung wert.

Ein paar Beispiele, mit ansteigender Dramatik:

Frau Huber hat eine Lesebrille. Nachdem sie etwas gelesen hat legt sie die Brille wieder weg. Sie hat dabei zwei Möglichkeiten: a) Sie legt die Brille immer an demselben Platz ab, um sie beim nächsten Mal sicher zu finden, b) sie legt sie dort ab wo sie sich gerade aufhält.

Frau Huber wählt immer b), auch wenn sie weiß, dass sie beim nächsten Gebrauch der Brille erst mal zehn Minuten nach dieser suchen wird. Aber jetzt, in diesem Augenblick des Wegle­gens ist es angenehmer, einfach sitzen zu bleiben.

Herr Müller ist Raucher. Er weiß, dass diese Angewohnheit für ihn schwere körperliche Schä­den bis hin zu einem qualvollen Tod zur Folge haben kann. Er weiß, dass er wegen dieser An­gewohnheit schon jetzt in seiner Fitness stark eingeschränkt ist, er sich mit dem Atmen schwer tut, er zu Schweißausbrüchen neigt usw. Er weiß, dass er dank dieser Angewohnheit einen abstoßenden Körper- und Mundgeruch verbreitet. Aber jetzt, in diesem Augenblick, steht er vor zwei Handlungsmöglichkeiten: a) dem Suchtdruck nachzugeben und sich eine Zi­garette anzuzünden, b) dem Suchtdruck zu widerstehen und körperlich wieder fitter zu werden und schwere Erkrankungen zu vermeiden.

Herr Müller entscheidet sich immer wieder für a). Denn diese Alternative ist jetzt, in diesem Augenblick weniger unangenehm. b) ist mit sehr viel mentalem Energieaufwand über einen sehr langen Zeitraum verbunden. Bei a) muss er gar nichts leisten.

Frau Mayer will mit dem Fahrrad zum Einkaufen fahren. Sie weiß, dass sie ohne Helm sich schwere Verletzungen am Kopf zuziehen kann, die nicht dadurch leichter werden, dass sie ja nur eine kurze Strecke gefahren ist. Sie hat zwei Alternativen: a) ohne Helm zu fahren, b) einen Helm aufzusetzen. Frau Mayer entscheidet sich für a), denn das bewahrt sie jetzt, in die­sem Augenblick davor, den Helm aus dem Keller holen zu müssen und sich die Frisur helm­gerecht ordnen zu müssen. Die schwere Kopfverletzung kann ihr ja erst in fünf Minuten zu­stoßen. Das ist jetzt, in diesem Augenblick, also kein Entscheidungskriterium.

Herr Schmidt wird von seinem Kind geärgert. Er hat zwei Möglichkeiten: a) seinen aufschäu­menden Gefühlen nachzugeben und sein Kind anzubrüllen, b) die Gefühle zuzulassen, ohne ihnen nachzugeben und seinem Kind sachlich und bestimmt mitzuteilen, dass es ihn gerade verletzt hat.

Herr Schmidt brüllt sein Kind an, denn das erfordert keinen inneren Widerstand, verbraucht also weniger Energie. Dass das Kind dadurch auch aggressiv wird und die Konfrontation ein paar Minuten später noch heftiger wird, zählt jetzt, in diesem Augenblick nicht.

Frau Bäcker leidet an Depressionen. Ihr Leben ist stark eingeschränkt durch dieses Leiden, sie zerbricht fast daran. Aber gleichzeitig wehrt sie sich mit Händen und Füßen gegen eine Hei­lung. Denn Heilung würde den Aufbruch in ein neues Leben bedeuten. Ein glückliches, heiles Leben – aber eben auch ein neues und damit unbekanntes Leben. Unbekanntes macht Angst, und deshalb ist es jetzt, in diesem Moment weniger unangenehm, an der bekannten, vertrauten Krankheit festzuhalten.

So läuft das immer, in 100 % aller Fälle, wenn Menschen handeln, ohne nachzudenken. Das ist der Grund, warum Menschen sich ihr Leben schwer machen, sich gegenseitig Leid zufü­gen, nicht aus zerstörerischen Gewohnheiten herausfinden, krank bleiben, sich zu Dingen ma­nipulieren lassen, die sie eigentlich nicht wollen.

Diese Lebenshaltung hat – wie gesagt – jeder Mensch verinnerlicht. Sie ist ja grundsätzlich auch (über)lebensnotwendig. Man kann nicht jede noch so kleine Handlung auf ihre langfristi­gen Auswirkungen hin überdenken. Man käme mit lauter Planen und Vorausdenken nicht mehr zum Leben. Es geht gar nicht anders als dass man den größten Teil seines Daseins aus dem Augenblick heraus lebt.

Aber diese Lebenshaltung hat halt ständig auch negative, schädliche Folgen. Schädlich für mich und für andere um mich herum. – Nur, wie entkommt man dieser Grundhaltung der Be­quemlichkeit?

Ganz ablegen kann die kein Mensch. Siehe zwei Abschnitte weiter oben. Oft ist es auch gar nicht nötig, weil die Folgen dieser Haltung zwar negativ sind, aber harmlos bleiben. Frau Hu­ber geht halt als Schussel durch die Welt und verbringt einen Teil ihres Lebens mit dem Su­chen nach ihrer Brille. Na und?

Doch gelegentlich hat diese Grundhaltung der Bequemlichkeit verheerende Auswirkungen. Sie führt zu Krankheit, hält Menschen in Krankheiten, zerstört Beziehungen, endet tödlich. Und es gibt immer wieder Menschen, die deshalb aus dieser Haltung herausfinden. Allerdings meistens erst, wenn das Leid so groß geworden ist, dass das Beibehalten der schädlichen Gewohnheit in jedem Augenblick die anstrengendere Alternative wird. Also wenn die Änderung weniger unangenehm wird als das Weitermachen. Was in den meisten Fällen bedeutet: Der Mensch ändert sich erst wenn er ganz unten ist.

Herr Müller wird erst zu Alternative b) (Rauchen aufhören) greifen, wenn a) (Weiterrauchen) unangenehmer, anstrengender als b) wird. Sprich: Wenn der Krebs ausgebrochen ist.

Frau Mayer wird erst einen Helm aufsetzen, wenn sie nach einem Schädelbruch längere Zeit im Krankenhaus lag.

Herr Schmidt wird seinen Gefühlen erst dann nicht mehr freien Lauf lassen, wenn sein ständig angebrülltes Kind den Kontakt mit ihm verweigert.

Frau Bäcker wird sich erst von der Depression lösen wenn sie vor dem Suizid steht und diesen überlebt.

So läuft es meistens. Viele Menschen schaffen es aber schon die Kurve zu kriegen bevor sie ganz unten sind. – Wie die das machen? – Sie denken nach. Oder besser gesagt: Sie denken vor. Sie kommen irgendwann an den Punkt, an dem sie über den Augenblick hinaus denken und langfristig denken. An dem sie die gesamten Auswirkungen der anstehenden Handlungs­möglichkeiten anschauen, nicht nur die unmittelbaren, jetzt im Moment.

Und manchmal – nicht immer – ändern sich diese Menschen dann, ohne dass sie erst ganz un­ten ankommen müssen.

Erstaunlich, wozu der Mensch in der Lage ist.

Warnung

Der Autor dieser Seite ist nicht berechtigt, sich öffentlich zu äußern. Und das gleich aus drei Gründen: Er ist alt (63Jahre), er ist ein Mann, er ist Christ. In diesen toleranten Zeiten eine absolut unerträgliche Kombination, die man zurecht niemandem zumuten darf.
Was noch verschärfend hinzukommt: Der Autor versucht nicht, sich die Welt nach seinen Wünschen und Ängsten zurechtzubasteln. Er lebt in der irrwitzigen Vorstellung, dass es eine objektive Realität gibt und dass das Leben in dieser Realität das einzig sinnvolle ist. Kurz gesagt: Der Autor dieser Seite denkt ernsthaft nach. Unfassbar. Eine fremde Welt tut sich hier auf.
Sie sind deshalb selber schuld, wenn Sie hier weiterlesen.

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